Friedrich Torberg
Sechs Punkte für ein Werk, das längst vergangene Zeiten wiederaufleben lässt. Am Ende wird man tatsächlich ein wenig schwermütig, weil man diese Epoche einer reichen geistigen Kultur nicht miterleben konnte; aber es überwiegt doch die Freude, dass es der Autor so gut geschafft hat, den Leser auch nach so vielen Jahren noch daran teilhaben zu lassen.
Gesamteindruck: 7/7
Wertvolles Zeugnis einer vergangenen Epoche.
Der von Friedrich Torberg skizzierte „Untergang des Abendlandes“ vollzieht sich völlig anders als bei Oswald Spengler, der diesen Begriff ja bereits 1918 bzw. 1922 prägte. Torberg bezieht sich nämlich überhaupt nicht auf „globale“ Phänomene sondern auf den Mikrokosmos der „Kaffeehauskultur“ (wenn man diesen etwas unpräzisen Überbegriff verwenden will), deren letzte Ausläufer in der Zwischenkriegszeit noch vorhanden waren. „Die Tante Jolesch“ ist dabei ein eher irreführender Titel, das Buch könnte genauso gut den Namen eines anderen Protagonisten dieser durch den Nationalsozialismus zerstörten Szene tragen.
Wir haben es hier mit einer Sammlung von kurzen und manchmal auch etwas längeren Anekdoten zu tun. Die angesprochene Tante Jolesch nimmt zwar einen vorderen Platz im Buch ein, ist aber keineswegs wichtiger oder weniger wichtig als eines der anderen Originale, die der Autor zu Wort kommen lässt. Ich persönlich finde sogar, dass beim ersten Lesen die Tante Jolesch ein wenig untergeht, da ihr Platz auf den Seiten des Buches ist, auf denen man sich noch an das Lesen von Anekdoten gewöhnen muss. Das fällt anfangs erstaunlich schwer – den „normalen“ Lesegewohnheiten ist es einfach zu fremd, ein Buch ohne eigentliche Handlung, ohne roten Faden zu lesen. Dazu kommen noch die vom Autor immer wieder selbst angesprochenen strukturellen Mängel, die dem Ganzen einen besonderen Charme verleihen. Nach einigen Seiten sind diese Hürden geschafft und der uneingeschränkten Freude am hervorragenden Stil Torbergs steht nichts mehr im Wege. Der Autor beschreibt die Szenen, die er teils selbst erlebt hat, die ihm teils auch von berühmten und „namenlosen“ Freunden zugetragen wurden mit großer Liebe zum Detail. So erhält man trotz der Kürze der Geschichtchen eine lebendige Vorstellung vom Lebensgefühl jener Zeit und schafft es kaum noch, das Buch aus der Hand zu legen. An manchen Tagen ist mir bei der Lektüre der „Tante Jolesch“ sogar aufgefallen, dass die Lesegeschwindigkeit unmerklich abnahm, nur um länger etwas von diesem außergewöhnlichen Werk zu haben. Vor allem wenn man in Wien lebt, sollte man sich dieses Werk unbedingt zu Gemüte führen – man wird Fragmente von Schauplätzen und Spuren des Lebensgefühls auch in der heutigen Stadt und ihren Bewohnern entdecken können.
Neben dem Hauptteil des Buches, der aus den witzigen und schwermütigen (gerne auch beides zusammen, wie es wohl der Wiener Seele entspricht) Anekdoten besteht, gibt es am Schluss noch einige früher veröffentlichte Texte Torbergs. Diese sind ebenso gut gelungen und dürften aufgrund ihrer vergleichsweise großen Länge auch „Normalverbraucher“ begeistern.
Autor: Friedrich Torberg
Originaltitel: Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abendlands in Anekdoten
Erstveröffentlichung: 1975
Umfang: 304 Seiten
Gelesene Sprache: Deutsch
Gelesene Version: Taschenbuch
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