Helloween
Sieht man sich die Tracklist dieses Live-Doppel-Albums an, mag man zunächst leicht konsterniert sein. Kein „Keeper Of The Seven Keys“, kein „Halloween“, kein Track von „Walls Of Jericho“ (1985), kein eigentlich unvermeidliches „I Want Out“. Dafür jede Menge Songs aus den beiden ersten Alben der dritten maßgeblichen Helloween-Besetzung (also mit Deris/Grapow/Kusch, ohne Kiske/Hansen). Wer aber nur aufgrund des Fehlens vermeintlich unverzichtbarer Klassiker und liebgewonnener Bandmitglieder auf den Kauf von „High Live“ (1996) verzichtet, verpasst definitiv ein starkes Tondokument aus der zweiten Hochphase der Hamburger Metal-Institution.
Gesamteindruck: 7/7
Helloween Mk-III auf dem Höhepunkt.
Als „High Live“ 1996 veröffentlicht wurde, waren Helloween gerade zum zweiten Mal ganz weit oben angekommen – wenn man das in der für Heavy Metal generell sehr schwierigen Zeit Mitte/Ende der 1990er so nennen will. Den ersten Frühling hatten die Kürbisköpfe bekanntlich im Zeitraum kurz nach ihrer Gründung 1985 bis ungefähr 1988/89, also nach der Veröffentlichung von „Keeper Of The Seven Keys Part II“ (1988). Danach folgte eine Durststrecke, gekennzeichnet durch zwei halbgare Veröffentlichungen und den Ausstieg der wichtigen Bandmitglieder Michael Kiske (v), Kai Hansen (g) und Ingo Schwichtenberg (d, † 1995). Erst 1994 gelang es, sich wieder zu konsolidieren, was maßgeblich der Verpflichtung des neuen Sängers Andi Deris, der schnell zum wichtigsten Songwriter der Band wurde, zu verdanken ist. Praktisch gemeinsam mit ihm kam Drummer Uli Kusch. Gitarrist Roland Grapow hatte Kai Hansen bereits einige Jahre zuvor ersetzt. Diese drei bildeten gemeinsam mit der Kernmannschaft Michael Weikath (g) und Markus Grosskopf (b) eben jene Helloween-Besetzung, die auf „High Live“ zu hören ist.
Der Lauf der Jahre.
Soviel zur Vorgeschichte, kommen wir zum Wesentlichen und zu den Gründen, wieso „High Live“ meiner Meinung nach absolut hörenswert ist: Erstens zeigt sich Sänger Andi Deris, zu diesem Zeitpunkt voll vom Publikum akzeptiert, in einer Form, von der er heute leider weit entfernt ist. 1996 saß jeder Ton, im Gegenzug fehlt die übertriebene Theatralik, durch die der Wahl-Mallorquiner in späteren Jahren immer wieder negativ auffiel. Eine durch und durch starke Performance von einem sympathischen Sänger, der auch die älteren Nummern perfekt rüberbringt. Dazu eine Randbemerkung: Besonders deutlich wird die außergewöhnliche Leistung von Deris, wenn man sich mehrere Live-Versionen derselben Nummer aus verschiedenen Helloween-Epochen hintereinander zu Gemüte führt. Ich empfehle zu diesem Zweck den immer wieder gern gehörten Klassiker „Dr. Stein“. Man vergleiche:
- Dr. Stein – Studio-Version (1988)
- Dr. Stein – live mit Michael Kiske (1992)
- Dr. Stein – live mit Andi Deris (1996)
- Dr. Stein – live mit Andi Deris (2011)
- Dr. Stein – live mit Michael Kiske und Andi Deris (2017)
Auch wenn mir bewusst ist, dass YouTube-Videos nicht zwingend eine vergleichbare bzw. die reale Soundqualität haben: Meiner persönlichen Meinung nach ist „Dr. Stein“ auf „High Live“ tatsächlich die beste, kraftvollsteVersion dieses Songs überhaupt. Selbstverständlich ist Andi Deris mittlerweile älter geworden – „High Live“ ist zum Zeitpunkt dieser Rezension immerhin mehr als 21 Jahre (!) alt. Man sieht bzw. hört daran aber auch, wie unfair die ständigen Forderungen nach einer Kiske-Rückkehr damals schon waren. In den Jahren danach vielleicht weniger, wenn man – auch als Fan von Deris – ganz ehrlich ist. Aber wenn man sich die aktuellste Fassung der „Pumpkins United“-Tour anhört (leider nicht in Top-Qualität zu finden), wird meiner Ansicht nach klar, dass mittlerweile der Mittelweg mit beiden Vokalisten die geschickteste Lösung ist, denn auch ein Michael Kiske kann nicht mehr wie früher.
Spielfreude ohne Ende.
Ein weiterer Punkt, der „High Live“ nach wie vor empfehlenswert macht, ist die Spielfreude der Band, die man aus jeder Note zu hören glaubt. Das hat man bei Helloween in den jüngerer Vergangenheit schon deutlich anders gehört und gesehen. Hier hat man hingegen das Gefühl, dass die Band es sehr genießt, sich wieder so von den schwierigen Jahren zuvor erholt zu haben. Noch dazu ist die Scheibe außerordentlich gut und druckvoll produziert, ohne dass die Live-Atmosphäre fehlen würde. Auch ein Kunststück, das so nicht so häufig gelingt. Aufgenommen wurde übrigens bei drei Shows, zwei davon in Spanien, eine in Italien.
Der dritte Faktor, der für die Anschaffung von „High Live“ spricht, ist die Song-Auswahl. Ja, richtig gelesen. Einige der ganz großen Nummern fehlen, wobei man mit „Eagle Fly Free“, „Dr. Stein“ und „Future World“ auch in dieser Hinsicht gut bedient wird. Ein Großteil der Setlist konzentriert sich aber auf die zwei Alben, die in genau dieser Besetzung eingespielt wurden, was vielleicht ein Grund für diese Performance sein mag. Man hört, dass sich die komplette Band mit diesem Material extrem wohl zu fühlen scheint. Ganz abgesehen davon zeigt gerade „High Live“, wie dumm es letztlich war und ist, Helloween ständig auf die beiden „Keeper“-Alben zu reduzieren. „Master Of The Rings“ (1994) und ganz besonders „The Time Of The Oath“ (1996) kommen praktisch ohne Ausfälle aus. Jede Nummer hätte auf dieser Tour gespielt werden können – und viele wurden es. Ich persönlich empfinde es geradezu als Wohltat, Songs wie „Wake Up The Mountain“ oder „Where The Rain Grows“ vor einem so enthusiastischen Publikum zu hören, noch dazu dermaßen stark vorgetragen. Und aus heutiger Sicht ist es auch interessant, wie frisch sich eine in den vergangenen 20 Jahren fast schon totgespielte Nummer wie „Power“ anhören kann.
Fazit: Ich finde auf „High Live“ beim besten Willen nichts auszusetzen. Maximal zwei kleine Mängel könnte man anführen: Einerseits das Fehlen einer Nummer vom Debüt „Walls Of Jericho“ (was so gesehen vielleicht gar nicht verkehrt ist, die von Kai Hansen gesungenen Stücke hat Andi Deris meiner Meinung nach noch nie richtig hingebracaht) andererseits ist die Spielzeit mit rund 85 Minuten verhältnismäßig kurz bemessen. Ob damals auch andere Songs gespielt wurden, die es nicht auf das Album geschafft haben, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Unabhängig davon: Das ist schlicht eines der stärksten Live-Alben überhaupt und ich kann es mir tatsächlich immer wieder und wieder anhören. Volle Punktezahl, alles andere wäre für mich, der dieser Band immer ein wenig kritisch gegenüber steht, zu wenig.
Track – Titel – Album*
CD 1
- We Burn (von „The Time Of The Oath“, 1996)
- Wake Up The Mountain (von „The Time Of The Oath“, 1996)
- Sole Survivor (von „Master Of The Rings“, 1994)
- The Chance (von „Pink Bubbles Go Ape“, 1991)
- Why? (von „Master Of The Rings“, 1994)
- Eagle Fly Free (von „Keeper Of The Seven Keys Part II“, 1988)
- The Time Of The Oath (von „The Time Of The Oath“, 1996)
- Future World (von „Keeper Of The Seven Keys Part I“, 1987)
- Dr. Stein (von „Keeper Of The Seven Keys Part II“, 1988)
CD 2
- Before The War (von „The Time Of The Oath“, 1996)
- Mr. Ego (Take Me Down) (von „Master Of The Rings“, 1994)
- Power (von „The Time Of The Oath“, 1996)
- Where The Rain Grows (von „Master Of The Rings“, 1994)
- In The Middle Of A Heartbeat (von „Master Of The Rings“, 1994)
- Perfect Gentleman (von „Master Of The Rings“, 1994)
- Steel Tormentor (von „The Time Of The Oath“, 1996)
Gesamteindruck: 7/7
* Bei Live- und Best of-Alben verzichte ich auf eine Einzelbewertung der Songs.
Helloween auf “High Live” (1996):
- Andi Deris – Vocals
- Michael Weikath – Guitar, Backing Vocals
- Roland Grapow – Guitar, Backing Vocals
- Markus Grosskopf – Bass, Backing Vocals
- Uli Kusch – Drums, Backing Vocals
- Jörn Ellerbrock [Guest] – Keyboards
Anspieltipp: Where The Rain Grows