„Avernum“ ist der Auftakt einer Rollenspiel-Reihe. Der Fokus der gesamten Serie liegt auf Gameplay und Story. Grafik, Sound und Nutzerfreundlichkeit sind hintan gestellt. Und das so konsequent, dass „Avernum“ grundsätzlich eher für Puristen geeignet scheint. Diese Rezension gibt vielleicht Aufschluss, ob es sich auch für Gelegenheitsspieler lohnen kann.
Gesamteindruck: 4/7
Vom (ganz) alten Schlag.
Man sagt ja, dass früher alles besser war. Speziell bei Computerspielern mittleren Alters, zu denen auch ich mich zählen darf, scheint diese These weit verbreitet zu sein. Ob sie wirklich so vorbehaltlos zutrifft, wie die Nostalgiebrille oft glauben macht, sei dahingestellt; es gibt meiner Erfahrung nach aber tatsächlich gewisse Aspekte an Spielen, auf die früher im Allgemeinen größerer Wert gelegt wurde. Ein gutes Beispiel dafür ist die Rollenspielreihe „Avernum“, erschaffen von Jeff Vogel (Spiderweb Software), veröffentlicht als Shareware. Shareware? Ja, richtig gelesen. Bedeutet in diesem Falle, dass weite Teile des Spiels gratis zur Verfügung stehen und man erst ab einem gewissen Fortschritt die Vollversion kaufen muss, um weiter zu kommen. Ein Modell, das man eigentlich mit Ende der 1990er Jahre ausgestorben glaubte.
Die Handlung in Kurzfassung
Praktisch die gesamte Welt wird vom Imperium beherrscht, das seine Macht zu verteidigen weiß: Jeder, der sich eines Vergehens – und sei es noch so gering – schuldig macht, wird unter die Oberfläche verbannt. Dort, in einem weit verzweigten Höhlensystem, genannt Avernum, kämpfen die so Verurteilten um ihr Leben. Und genau dort findet sich auch eine Gruppe von Abenteurern wieder, die es an der Oberfläche gewagt hat, ihre Meinung offen auszusprechen. Doch in Avernum gibt es nicht nur Leid und Krieg. Im Laufe der Zeit hat sich dort eine eigene Zivilisation entwickelt, die den Herren der Oberfläche naturgemäß nicht gerade freundlich gesinnt ist.

Veteranen mag das Setting von „Avernum“ ein wenig an den Rollenspiel-Klassiker „Ultima Underworld: The Stygian Abyss“ (1992) erinnern. Letztlich ist „Avernum“ mit seiner Story, die nur Teil einer größeren Geschichte ist, die sich über alle Teile der Serie zieht, aber trotz diverser Ähnlichkeiten eigenständig genug. Oder, anders gesagt: „Avernum“ fühlt sich ein bisschen nach einer erweiterten, vertieften Story an, nach so etwas wie der Idee eines Handlungsstranges, der in „Ultima Underworld“ hätte stattfinden können. Oder auch umgekehrt, je nach Sichtweise. Und noch eine Schippe Geschichte: Spiderweb Software veröffentlichte bereits 1995 bis 1997 die „Exile“-Trilogie. Die ersten drei Teile von „Avernum“ sind Remakes jener Trilogie, mit geringfügigen optischen Verbesserungen. Stark erweitert wurde hingegen der Umfang mit zahlreichen Nebenquests, die es bei „Exile“ nicht in dieser Form gab. Die Hauptstory wurde wiederum nicht verändert, was die zeitliche Nähe zu „Ultima Underworld“ in eine etwas andere Perspektive rückt.
Nun aber in medias res – und zur Erklärung, warum diese Rezension mit dem Blick durch die Nostalgiebrille begonnen hat. Wer „Avernum“ zum ersten Mal startet, könnte sein blaues Wunder erleben. Und das sogar wenn man vorher schon den einen oder anderen Screenshot gesehen hat. Die Grafik, die sich dem geneigten Spieler bietet, ist so rudimentär, dass man kaum glauben mag, dass dieses Spiel tatsächlich im Jahr 2000 veröffentlicht wurde. Sogar noch minimalistischer ist der Sound: Am Titelscreen gibt es ein wenig Musik zu hören, im Spiel herrscht hingegen meist Stille. Ein paar Effekte gibt es zwar, beispielsweise wenn ein Zauberspruch sein Ziel trifft, aber auch hier darf man sich nicht zu viel erwarten. Wenn man es ganz hart formulieren will: „Avernum“ ist nach heutigen Maßstäben im Prinzip ein Spiel ohne Ton und mit einer Grafik, für die die Rechenleistung eines PCs aus den 1980ern vermutlich ausgereicht hätte.
Unkomfortabel wie nur was.
Warum ist das so? Nun, „Avernum“ ist nicht einfach „nur“ ein Indie-Spiel und daher weitgehend frei vom Ziel, möglichst jedem zu gefallen. Immerhin verhindert dieser Aspekt aber, dass der Titel

der beklagenswerten „Casualisierung“ des Genres anheim fällt. Wichtiger ist: Frei von Konventionen legte und legt Spiderweb Software bei der Programmierung seiner Titel den Fokus ganz klar auf Gameplay und Storytelling. Grafik und Sound werden hintan gestellt, was zur Folge hat, dass man sich in einem Spiel wähnt, das auch in den 1990ern grafisch wie ein Relikt aus anderen Zeiten gewirkt hätte. Will sagen: Es gibt keine Animationen, die Charaktere hüpfen ruckartig durch die in isometrischer Perspektive dargestellte Welt. Doch damit nicht genug: Die Texturen sind, um es vorsichtig zu formulieren, ziemlich hässlich, es gibt wenige unterschiedliche Sprites, die Hintergründe sind abwechslungsarm und auf großen, modernen Bildschirmen ist es gerade noch so möglich, überhaupt etwas in der Pixelpracht zu erkennen. Wer also Wert auf ein optisches und akustisches Feuerwerk legt, wird „Avernum“ schnell in die (virtuelle) Ecke feuern.
Gleiches gilt vermutlich für alle, die auf Komfort-Funktionen nicht verzichten wollen. Das ist meines Erachtens übrigens die größte Schwäche dieses Titels – es gibt kein Questlog, keine Weltkarte, kein gar nichts. Das Aufheben von Gegenständen und das Durchsuchen von Truhen ist eine einzige Qual, Quickslots oder Shortcuts, um z.B. Heiltränke zu benutzen, sind nicht vorhanden usw. usf. Vor allem das Fehlen von Questlog und Karte frustrieren – die Welt von „Avernum“ ist sehr groß und die Aufgaben sind zahlreich. Es gibt jede Menge NPCs – all das führt dazu, dass man leicht die Übersicht verliert, wenn man sich nicht selbst hilft. Zumindest das fehlende Questlog wird durch die Möglichkeit, Teile von Konversationen abzuspeichern und bei Vollzug zu löschen, einigermaßen wettgemacht, auch wenn das bei weitem kein vollwertiger Ersatz ist. In Hinblick auf die Weltkarte gebe ich zu, dass ich das Spiel eventuell nicht durchgezogen hätte, wenn es hierfür nicht Abhilfe im Internet gäbe. Ein Tipp am Rande: Einigermaßen kann man sich behelfen, indem man Speicherständen so umständliche (aber dafür selbsterklärende) Namen wie „ich muss jetzt zum Drachen im Norden“ o.ä. gibt. Das ist zwar mühsam, spart aber im Endeffekt Nerven.
Fokus: Storytelling und Gameplay.
Wieso zum Teufel ist „Avernum“ dann trotz eindeutiger Schwächen bei Grafik, Sound und Benutzerfreundlichkeit auch 2019 noch einen Versuch wert? Man kann es sich denken: Die Entwickler haben tatsächlich nicht zu viel versprochen und alle Kapazitäten in Gameplay und Story gesteckt. Die Welt, in die der Spieler geworfen wird, wirkt für eine derart simple Aufmachung geradezu unerhört lebendig. Denn „Avernum“ verfügt über gute Charaktere und eine fesselnde Geschichte. Im Spielverlauf zeigt sich auch recht schnell, dass nicht alles so ist, wie es scheint, dass nicht jedes Monster automatisch ein Feind sein muss und dass es unerwartete Allianzen geben kann. Doch damit nicht genug: Der Spieler hat ständig das Gefühl, nur Teil einer Episode einer Welt zu sein, die es vor ihm gegeben hat und in der auch ohne sein Zutun bereits viel passiert ist. „Tiefe der Erzählung“ nennt man das wohl – und genau das ist es, das „Avernum“ zu einem lebendigen, atmenden Universum macht. Immer wieder bin ich in der Retrospektive erstaunt, wie das überhaupt möglich ist, denn fast alle Features, die man bei aktuellen Titeln als selbstverständlich annimmt, fehlen (z.B. Tag-Nacht-Wechsel, Tagesabläufe von NPCs, Konsequenzen, die über ein einfaches Rufsystem hinausgehen usw.).

Aber auch das Gameplay ist nicht von schlechten Eltern. Man kann sich allein oder mit einer Vierer-Party an die Erkundung des Untergrunds machen. Welche Fähigkeiten die Charaktere haben, welcher Klasse sie angehören und wie sie aussehen, kann man entweder aufwendig selbst festlegen – oder man nimmt mit vorgefertigten Kriegern, Zauberern, Schurken und allem dazwischen vorlieb. Wer möchte, kann in „Avernum“ auch den einen oder anderen NPC aufnehmen, der sich der Party anschließt (vorausgesetzt, man hat Platz, mehr als 4 Slots gibt es nicht). Neben den Eigenschaften, die man vor Spielstart wählt, gibt es das in Rollenspielen übliche System der Erfahrungspunkte und Stufenaufstiege. Trotz aller Umständlichkeit des entsprechenden Menüs macht es viel Spaß, an der stetigen Verbesserung seiner Figuren zu feilen, bis man zum Schluss mit – hoffentlich – ausgezeichnet ausgebildeten Spezialisten in den letzten Kampf zieht. Der spielt sich dann – wie alle Gefechte – rundenbasiert ab, während die Erkundung von Avernum in Echtzeit abläuft. Eigentlich ganz gut gelöst, allerdings muss man in Dungeons manuell zwischen Kampf und Erkundung wechseln, was gerade an sehr engen, dunklen Stellen manchmal nicht rechtzeitig gelingt. Blöd fand ich in diesem Zusammenhang auch, dass es nicht möglich ist, die Gruppe quasi zu „parken“ und z.B. nur mit dem stärksten Charakter unsicheres Terrain zu erkunden. Es müssen leider immer alle 4 sein und zu allem Überfluss erleidet meist auch jede Figur das gleiche Schicksal. Heißt: Betrete ich ein Feld, in dem der Charakter magischen Schaden nimmt, nutzt es nichts, wenn ich das merke und sofort umdrehe. Nicht nur der erste Charakter betritt das Feld, die anderen drei folgen stets genau seinen Schritten. Gehe ich zurück, kommt einem Rattenschwanz gleich zuerst der zweite, dann der dritte und schließlich der vierte Charakter genau auf das gleiche Feld und verliert entsprechend seinen Stärken und Schwächen Lebenskraft. Ganz schön unfair, finde ich.
Teil des Gameplays ist auch die Ausstattung des Spiels mit Quests. Neben drei großen Aufgaben, die gelöst werden müssen, um das Spiel zu beenden, gibt es genügend Möglichkeiten, Geld (und Erfahrungspunkte) zu verdienen. In einer Vielzahl von Dörfern, ab und an auch einfach so in der Gegend, trifft man auf freundlich gesinnte NPCs, die die Dienste von gestandenen Abenteurern benötigen. Und ja, es gibt sie auch in „Avernum“, die berühmt-berüchtigten Botengänge, in denen man mal Fresspakete, mal eine Ladung Erz von der einen Stadt in die andere bringen darf. Einen Zwang, diese Aufgaben anzunehmen gibt es zum Glück aber nicht – denn mangels Schnellreise-System werden die Wege oft ziemlich weit. A pro pos „weit“: Avernum ist eine große Welt, die von Anfang an fast vollständig frei begehbar ist. Wer sich zu weit in die Wildnis wagt, mag dann zwar auf zu starke Gegner stoßen, insgesamt ist es aber erfreulich, wie wenig einen das Spiel hier an der Hand nimmt. Wobei die Freiheit durchaus kontraproduktiv sein kann und man manchmal überhaupt nicht mehr weiß, wohin und was tun – das liegt aber, auch, wenn ich mich wiederhole, mehr am fehlenden Questlog als am Spiel selbst.
Fazit: Man muss sich darauf einlassen.
Wie man sieht: „Avernum“ hat einiges zu bieten, es gibt aber auch Gründe, das Spiel abzulehnen. Es kommt ganz drauf an, worauf man als Spieler den Schwerpunkt legt. Klar ist außerdem: Dieser Titel ist keineswegs das Beste aus beiden Welten. Es gibt hier eine starke Schieflage zwischen Präsentation und Tiefe des Inhalts. Um dieses Spiel tatsächlich genießen zu können, ist es daher zwingend notwendig, sich auf gewisse Dinge einzulassen. Wer das nicht schafft bzw. sich von der äußerlichen Einfachheit des Titels abschrecken lässt, wird ohnehin nicht lange genug dabei bleiben. Wer sich daran gewöhnen kann, sollte auf jeden Fall einen Versuch riskieren. Und dann auch gleich die Nachfolger antesten, die dann doch etwas benutzerfreundlicher um die Ecke kommen, ohne dass ihnen die Stärken von „Avernum“ verloren gehen. Dieser Serienauftakt ist wohl vor allem etwas für Rollenspiel-Puristen, die gelegentlich sogar noch zu Papier und Bleistift greifen möchten. Denn ganz ohne wird man das Spiel nur schwer meistern können.
Gesamteindruck: 4/7

Genre: Rollenspiel
Entwickler: Spiderweb Software
Publisher: Spiderweb Software
Jahr: 2000
Gespielt auf: PC