Ensiferum
Mit ihrem 8. Longplayer begeben sich Ensiferum auf ungewohntes Terrain: „Thalassic“ ist altgriechisch und bedeutet soviel wie „von der See“ oder „zum Meer gehörend“. Um ein richtiges Konzeptalbum handelt es sich jedoch nicht; die einzelnen Tracks haben zwar alle mehr oder weniger das feuchte Element zum Thema, erzählen aber keine zusammenhängende Geschichte. Doch nicht nur die Sprache des Titels und das Thema sind ungewöhnlich, denn Ensiferum haben nach einem neuerlichen Personalwechsel gleich auch den Power Metal-Anteil deutlich nach oben geschraubt.
Gesamteindruck: 6/7
Ungewohntes Terrain.
Die letzten Ensiferum-Alben (allen voran „Two Paths“, 2017) litten unter Ideenlosigkeit. Oder den falschen Ideen. Mit „Thalassic“ gelingt es den Finnen meiner Ansicht nach, das Ruder einigermaßen herumzureißen – ob der Kurswechsel dauerhaft ist, wird die Zeit zeigen müssen, ebenso ob und wie der neue Sound bei den alten Fans ankommt. „Neuer Sound“? Ja, richtig gelesen, denn Neuzugang Pekka Montin übernimmt auf „Thalassic“ nicht nur die vakante Position am Keyboard, sondern auch weite Teile des Klargesangs. Der Finne überzeugt mit einem theatralischen Organ, irgendwo zwischen einem jungen Tobias Sammett (Edguy, Avantasia) und Timo Kotipelto (Stratovarius) und bildet damit einen starken Kontrast zu Schreihals Petri Lindroos. Freilich gab es auch auf den bisherigen Alben von Ensiferum Klargesang, doch nie dermaßen präsent – erstmals in der mittlerweile 25-jährigen Bandgeschichte (wobei das Debüt erst 2001, also vor „nur“ 20 Jahren, erschienen ist) hat man das Gefühl, dass harsche und klare Vocals vollkommen gleichberechtigt nebeneinander stehen. Wenn man sich die Sache genauer besieht, ist das allerdings nur eine Weiterentwicklung eines Ansatzes, den man schon auf dem mediokren Vorgänger „Two Paths“ versucht hat. Bereits dort haben sich neben Lindroos weitere Bandmitglieder am Mikro versucht, allerdings mit recht unterschiedlichem Erfolg. Nun ist mit Montin erstmals ein Mann an Bord, der über eine ausgebildete und kraftvolle Singstimme verfügt. Zusätzlich wurden seine Gesangsspuren im Mix stark in den Vordergrund gestellt, sodass sie zum Teil sogar das Gebrüll von Lindroos zu dominieren scheinen.
All das verschiebt Ensiferum genre-technisch tatsächlich ein Stück weiter in Richtung Power Metal. Schluck. In einer Sache kann man allerdings direkt Entwarnung geben: Wer nach der ersten Auskoppelung „Rum, Women, Victory“ befürchtet hatte, Ensiferum würden sich langsam aber sicher in Alestorm verwandeln, kann beruhigt aufatmen. Zum einen ist das die einzige Spaßnummer, die textlich an die schottischen Piraten erinnert, zum anderen klingen Ensiferum allem Klargesang zum Trotz über weite Strecken immer noch wie sie selbst. Das heißt, auch auf „Thalassic“ stehen acht Songs (plus das gute Intro „Seafarer’s Dream“), die teilweise hart und schnell, teilweise getragen und hymnisch, aber immer extrem eingängig sind.
Macht Spaß. Zumindest mir.
Klassische Ensiferum-Nummern, für alle, die es am liebsten traditionell mögen, sind mit „Rum, Women, Victory“ (sieht man vom Piraten-Text ab), „Andromeda“, „Run From the Crushing Tide“, „For Sirens“ und „Cold Northland (Väinämöinen Part III)“ (dazu gleich noch ein Wort) mehr als genug vorhanden. Lauter gute Tracks, die jeden, der den melodisch-folkigen Stil der Band grundsätzlich mag, überzeugen sollten. Dazu kommt durch das zusätzliche Gesangstalent am zweiten Mikro noch eine von Ensiferum bisher nur in Ausnahmefällen erreichte Epik – man höre dazu vor allem „One With the Sea“, eine Nummer, die man so nicht mehr von den Schwertträgern erwartet hätte. Der letzte in dieser Intensität und Tonalität vergleichbare Song datiert aus 2004 („Lost in Despair“ auf „Iron“).
Und weil wir gerade von der Vergangenheit reden, sei, wie oben kurz angedeutete, auch der zweite super-epische Track auf „Thalassic“ erwähnt: „Cold Northland (Väinämöinen Part III)“ ist eine Reminiszenz auf „Old Man“ und „Little Dreamer“, die ersten beiden Parts von „Väinämöinen“, die 2001 auf dem Debüt „Ensiferum“ standen. Tatsächlich gelingt es den Finnen (von denen 2001 nur Markus Toivonen schon an Bord war) dieses alte Thema gut und konsequent in die Neuzeit zu transportieren – auch hier dank ihres neuen Sängers, der sich das Mikro brüderlich mit Schreihals Petri Lindroos teilt. Gefällt mir ganz ausgezeichnet!
Der Rest des Materials auf „Thalassic“ ist kurz, bewegt sich nie über die 5-Minuten-Marke. Wirklich negativ ist mir tatsächlich kein einziger Track aufgefallen. Eventuell würde ich bekritteln, dass Ensiferum es mit dem Folk-Anteil in „Midsummer Magic“ etwas zu bunt treiben (das klingt mir zu sehr nach Korpiklaani, mag dem einen oder anderen gefallen, mir nicht ganz so gut), der Gesang in „The Defence of the Sampo“ ziemlich merkwürdig anmutet und die Texte zum Teil gezwungen wirken (oder ihre Intonierung, man höre Auskoppelung Nummer 2, „Andromeda“).
Ansonsten geht das Album aber sehr gut rein, wenn man sich mit der gesangstechnisch so ungewohnten Ausrichtung per se anfreunden kann. Tatsächlich halte ich das für den größten Knackpunkt bei „Thalassic“ – denn auch ich war mir zunächst nicht sicher, ob ich die Platte überhaupt mag. Dann, nach einigen Durchläufen und diversen Ohrwürmern, war ich mir nicht sicher, ob ich „Thalassic“ als Ensiferum-Fan der ersten Stunde überhaupt mögen „darf“. Schließlich, nach ein paar weiteren Durchgängen, habe ich beschlossen, dass mir das egal ist. Dieses Album macht von vorne bis hinten einfach nur Spaß. Mir jedenfalls geht es so – ich gebe auch zu, dass ich eine gewisse Power Metal-Affinität habe und immer schon hatte. Wem die abgeht, der wird „Thalassic“ wohl nicht so positiv aufnehmen und darf gerne den einen oder anderen Punkt abziehen. Für mich ist dieses Album jedenfalls großes Kino, auch wenn es nicht an die ganz alten Großtaten der Finnen heranreicht.
PS: Ich persönlich finde es trotz allem schade, dass für Netta Skog (ex-Turisas) bei Ensiferum nach nur einem Album schon wieder Schluss war. Auch wenn Neuzugang Pekka Montin es offenbar besser als seine Vorgängerin geschafft hat, für frischen Wind zu sorgen, werde ich die extrovertierte Finnin mit ihrem Akkordeon vor allem bei Live-Auftritten vermissen. Von dem, was man bisher mitbekommen hat (das Video zu „Andromeda“ und die Covid-bedingte Release-Show im Studio) ist Montin zwar ein begnadeter Sänger, muss aber wohl erst in den Ensiferum-Kosmos reinfinden. Zum Zeitpunkt dieser Rezension wirkt er jedenfalls noch ein bisschen wie ein Fremdkörper zwischen den altgedienten Recken… aber all das nur am Rande, hat ja mit der Qualität von „Thalassic“ nicht zu tun.
Track – Titel – Länge – Wertung
- Seafarer’s Dream – 3:01 – 5/7
- Rum, Women, Victory – 4:16 – 5/7
- Andromeda – 4:04 – 6/7
- The Defence of the Sampo – 4:50 – 4/7
- Run from the Crushing Tide – 4:22 – 5/7
- For Sirens – 4:40 – 5/7
- One with the Sea – 6:10 – 6/7
- Midsummer Magic – 3:42 – 5/7
- Cold Northland (Väinämöinen Part III) – 8:41 – 7/7
Gesamteindruck: 6/7
Ensiferum auf “Thalassic” (2020):
- Petri Lindroos – Vocals, Guitars
- Markus Toivonen – Guitars, Vocals, Backing Vocals
- Sami Hinkka – Bass, Vocals, Backing Vocals
- Janne Parviainen – Drums
- Pekka Montin – Keyboards, Vocals, Backing Vocals
Anspieltipp: Cold Northland (Väinämöinen Part III)
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