„Atmen“ ist das Regie-Debüt von Karl Markovics, der auch das Drehbuch geschrieben hat. Einem breiteren Publikum dürfte der Wiener eher als Schauspieler ein Begriff sein – so spielte er z. B. von 1993 bis 1997 in zwei Staffeln „Kommissar Rex“ eine Hauptrolle, trat aber auch in ernsthaften Produktionen wie „Die Fälscher“ (2007) auf. Vorliegender Film zeigt hingegen, dass Markovics auch hinter der Kamera richtig gute Arbeit abliefern kann – nicht umsonst war „Atmen“ von der österreichischen Filmakademie 2011 sogar für den Auslands-Oscar vorgeschlagen, schaffte es allerdings nicht auf die Shortlist.
Gesamteindruck: 7/7
Knast und Tod.
Für einen der begehrten Academy Awards reichte es nicht, dennoch erfuhr „Atmen“ sowohl im deutschsprachigen Raum als auch international einiges an Beachtung und konnte den einen oder anderen Preis einheimsen, u. a. bei den Filmfestspielen in Cannes. Das alles aber nur am Rande, ich persönlich würde „Atmen“ jedem empfehlen, der ein typisch-österreichisches Drama sehen möchte. Und ja, der Stoff funktioniert nicht nur „auf österreichisch“, beinhaltet aber ein gewisses Lokalkolorit, das in der Synchronisation mit Sicherheit verloren geht. Wobei eigentlich sogar das zu kurz gegriffen ist, es ist ja nicht nur die Sprache, die „Atmen“ so österreichisch macht.
Worum geht’s?
Der 19-jährige Roman Kogler, der eine Haftstrafe im Jugendgefängnis verbüßt, steht kurz vor seiner frühzeitigen Entlassung. Damit die durchgeht, braucht er allerdings einen Job. Fündig wird er bei der Bestattung Wien, wo er sich während seines Freigangs schwierigen Kollegen, der Abscheu vor Leichen und mal mehr, mal weniger verzweifelten Angehörigen stellen muss- bis er schließlich doch seinen Platz findet und sich gleichzeitig auf die Suche nach seiner Mutter, die ihn als Kind weggegeben hat, macht…
„Atmen“ ist keine locker-flockige Sonntagsunterhaltung sondern ein trost- und humorloser Film, der aber gerade deshalb fast schon bedrückend realistisch und ehrlich wirkt. Tatsächlich sind das Eigenschaften, die mittlerweile typisch für den zeitgenössischen Film aus Österreich geworden sind (wobei ein Großteil der Produktionen zumindest ab und an Szenen bitterbösen Humors zu bieten hat). Wer sich darauf einlässt, sollte jedenfalls damit rechnen, sich nach dem Ansehen eher nachdenklich, vielleicht auch ein wenig niedergeschlagen zu fühlen – und auch ein kleines bisschen Hoffnung zu empfinden, denn ganz und gar ohne winzigen Silberstreif am Horizont mochte Markovics sein Publikum dann wohl doch nicht entlassen. Ich persönlich finde die Mischung ausgesprochen gelungen, ein Film für jedermann ist „Atmen“ aber definitiv nicht.
Keine Moralpredigt.
Grundsätzlich versucht sich der Regisseur an einer Art Coming-of-Age-Geschichte, wobei das wohl nicht ganz die richtige Zuschreibung ist. Eigentlich geht es eher um…. ja, was eigentlich? Die Wiedereingliederung eines straffällig gewordenen Jugendlichen in die Gesellschaft? Auch nicht so wirklich, wobei das natürlich schon auch Thema ist. Ich denke, „Atmen“ ist am ehesten so etwas wie eine Sozial- und Milieu-Studie; Markovics hinterfragt, be- und verurteilt nicht, er stellt einfach nur dar. Beispielsweise hat die Hauptfigur als Freigänger gelegentlich mit gewissen Vorurteilen zu kämpfen – eine echte Lösung für dieses durchaus reale Problem wird allerdings nicht präsentiert. Diese fatalistische Grundhaltung mag manche abstoßen, ich finde aber eher, dass sie einen Film wie diesen auszeichnet: Er zeigt die Dinge wie sie sind, nicht wie sie sein sollten. Der Rest wird dem Zuschauer überlassen.
Abgesehen von wenigen heftigen aber sehr kurzen Ausbrüchen ist „Atmen“ im Übrigen ein sehr ruhiger Film. Die Dialoge sind knapp und beschränken sich auf das Notwendigste, was den Zuschauer geradezu zwingt, sich mit der verschlossenen und wortkargen Hauptperson zu identifizieren. Roman Kogler kann und will nicht viel sagen, was in manchen Filmen ein Ärgernis sein könnte – hier ist es so, dass man ihn als Zuseher verstehen kann und mit ihm gemeinsam „Lasst’s mich doch einfach in Ruh‘!“ denkt. Durchaus bemerkenswert, wie gut es Markovics gelungen ist, mit sparsamen Mitteln eine derartig hypnotische Atmosphäre zu erzeugen.
Durchgehend spannend.
Die Spannung bleibt trotz der trostlosen und unterkühlten Art keineswegs auf der Strecke, was für ein Drama eigentlich eher ungewöhnlich ist, zumindest in diesem Ausmaß. Ich lehne mich jetzt vielleicht weit aus dem Fenster, aber ich bin der Meinung, dass Karl Markovics hier eines der besten Drehbücher überhaupt gelungen ist – nicht nur was den österreichischen Film betrifft. Ich denke vielmehr, dass „Atmen“ in seinem Genre sogar international einer der besten Filme der vergangenen Jahrzehnte sein dürfte.
Dazu tragen aus meiner Sicht neben dem starken Drehbuch vor allem zwei Faktoren bei. Erstens ist „Atmen“ – auch das scheint mir typisch für einen österreichischen Spielfilm – voller Details, die von Kamera und Mikrofon eingefangen werden, z. B. die typischen Abfahrtsgeräusche der S-Bahn, die Wohnungen, die nicht auf Hochglanz getrimmt sind und daher ungewohnt realistisch wirken, die zusammengeflickten Straßen usw. Vieles davon ist auch noch symbolisch aufgeladen, was beim ersten Ansehen gar nicht zur Gänze erfasst werden kann. Der zweite Faktor sind – natürlich – die Charaktere. Nun könnte man sagen, dass „Atmen“ ja nur auf eine einzige Hauptfigur setzt. Stimmt, und diese Rolle ist mit Thomas Schubert auch sehr gut besetzt. Allerdings ist auch der unterstützende Cast, allen voran Georg Friedrich als griesgrämiger Kollege, dermaßen gut gewählt (und vor allem auch geschrieben), dass ich nur staunen konnte. Dass eine ordentliche Dosis Wiener Lokalkolorit (und was könnte wienerischer sein als ein Bestattungsunternehmen…) am Start ist, freut den gelernten Österreicher natürlich.
Letztlich habe ich nur ein Haar in der Suppe gefunden: Die Annäherung des jungen Anti-Helden an seine Mutter ist im Gesamtkontext des Films ein wenig unbefriedigend. Mag auch an der Darstellung durch Karin Lischka liegen, das wage ich nicht zu beurteilen. Jedenfalls wirkt dieser Handlungsstrang nicht ganz stimmig, was dem guten Gesamteindruck aber keinen Abbruch tut. Fazit: Ein unerwartet starker Film und definitiv eines der besten derzeit verfügbaren Dramen im deutschsprachigen Raum. Volle Punktzahl, ich wüsste auf Anhieb nicht viel, das man hier besser machen könnte.
Gesamteindruck: 7/7
Originaltitel: Atmen.
Regie: Karl Markovics
Drehbuch: Karl Markovics
Jahr: 2011
Land: Österreich
Laufzeit: ca. 90 Minuten
Besetzung (Auswahl): Thomas Schubert, Georg Friedrich, Karin Lischka, Gerhard Liebmann, Stefan Matousch
Großartiger Film! Schön, dass du auch über österreichische Werke berichtest!