Edguy
Mit „Vain Glory Opera“ (1998) schafften Edguy, bis dahin eher Geheimtipp und/oder Regionalgröße, auch international den Durchbruch. Dafür sorgten geradlinige, sehr eingängige Power Metal-Hymnen mit einem Schuss Dramatik und, ja, auch jener Portion Kitsch, den die Fans damals einfach liebten und für den man den Bands bis heute nicht so richtig böse sein mag. Nur ein Jahr später legten die Fuldaer dann mit „Theater of Salvation“ das nächste Album vor. Manche sagen, es wäre das Beste, das sie bis heute hinbekommen haben; eine Ansicht, die nicht von ungefähr kommt.
Gesamteindruck: 7/7
Nach der Oper ins Theater.
Streitet man sich in der Hochkultur eigentlich darüber, ob das Theater oder die Oper die wichtigere, dramatischere oder sonst wie überlegene Kunstform ist? Ich weiß es nicht… Im Falle von Edguy kann ich hingegen berichten, dass „Theater of Salvation“ seinen Vorgänger „Vain Glory Opera“ in Sachen Dramatik übertrifft. Das Songwriting ist deutlich ausgereifter und komplexer, zum Teil hört man hier genau jene Ideen heraus, die zwei Jahre später auf „The Metal Opera“ von Avantasia endgültig aus dem Bandgefüge von Edguy herausgelöst werden sollten. Namentlich betrifft das neben dem Intro vor allem die abschließenden Tracks „The Unbeliever“ und „Theater of Salvation“, die klingen, als wären sie für das spätere Herzensprojekt von Tobias Sammet geschrieben worden. Nicht nur wegen der Texte und des neo-klassizistischen Songwritings, sondern auch und vor allem, weil man das Gefühl hat, der Edguy-Boss hätte diese Nummern im Hinblick auf die Intonierung mit zusätzlichen Stimmen komponiert (was ja ein Markenzeichen von Avantasia ist). In der Rückschau kommt es mir regelrecht merkwürdig vor, dass sich speziell beim Titeltrack niemand das Mikro mit Sammet teilt (und dass das damals niemandem aufgefallen sein soll). 😉
So oder so: „Theater of Salvation“ ist einer der am besten komponierten Langstrecken-Songs, den es von Edguy zu hören gibt (er wäre übrigens auch bei Avantasia ganz weit vorn dabei – und damit lasse ich es nun endgültig gut sein, was diese Vergleiche betrifft). Grandios, welche Epik und Dramatik Sammet für diese Nummer in Noten gegossen hat – übrigens komplett im Alleingang. Die Chöre, die Dynamik, die Instrumentierung (die trotz allem Bombast immer noch ihren Heavy Metal-Charme hat), die Lyrics – all das zusammen ergibt eine schlichtweg fantastische Achterbahnfahrt über 14 Minuten.
Abgesehen von diesem großen Moment, der zeigt, was für ein Ausnahmetalent Tobias Sammet als Sänger, vor allem aber als Komponist ist, stehen auf „Theater of Salvation“ gleich mehrere meiner All-time Favorites von Edguy: „Babylon“ ist meiner Ansicht nach bis heute eine der besten Power Metal-Nummern, die es gibt. Für mich ist das ein Song, der, vielleicht neben „The Dragon Lies Bleeding“ (HammerFall), wie kein anderer das positive Gefühl und die allgemeine Aufbruchsstimmung in der Szene Ende der 1990er repräsentiert. In leicht geringerem Ausmaß gilt Ähnliches für „The Headless Game“ und „Wake Up the King“, die eine bestens aufgelegte Band zeigen und mittlerweile zu Recht als Klassiker gelten.
Etwas mehr Zeit brauchen die Nummern nach der Halbzeit. Speziell gilt das für „Holy Shadows“, das bei mir in den Jahrzehnten, seit „Theater of Salvation“ erschienen ist, immer ein Schattendasein geführt hat – bis zu den aktuellen Re-Listenings für diese Rezension. Da hat es plötzlich geklickt und seither finde ich den Song sehr stark. „Falling Down“ und „Arrows Fly“ sind hingegen nett anzuhören, aber nichts, was über das hinausgeht, das man im Lehrbuch über das Schreiben einer ganz klassischen Power Metal-Nummer lesen kann. Wobei dazu gesagt werden muss, dass Edguy zumindest ein wenig an eben jenem Buch mitgeschrieben haben. Dennoch, mit den restlichen Krachern können diese beiden Tracks nicht ganz mithalten.
Balladeske Momente.
Noch nicht erwähnt habe ich die zwei Balladen, die auf dem Album zu finden sind. Richtig gelesen, es sind gleich zwei Songs aus einer Disziplin, die immer mal wieder belächelt wird. Tobias Sammet dürfte von seinem balladesken Talent bis heute voll und ganz überzeugt sein, was ich nicht in Frage zu stellen wage. Als Fan seiner frühen Arbeiten kann ich zumindest sagen, dass ich nicht immer mit seinen langsamen Ohrenschmeichlern einverstanden war und bin. Und so ist es auch auf „Theater of Salvation“: „Another Time“ ist eine klassische Piano-Ballade, kommt ohne Metal-Instrumentierung aus – und ist ein ziemlicher Schmachtfetzen. Ab und an mag man in der Stimmung dafür sein, aber mir persönlich ist das einfach zu viel des Guten. Nett anzuhören: Ja. Essenziell: Nein.
Ganz anders „Land of the Miracle“, das man im Gegensatz dazu aber eher unter dem Begriff „Power Ballade“ einordnen sollte, denn hier gibt es Gitarrenriffs und ein Solo. Unabhängig davon: Ich weiß, ich habe jetzt schon einige Male Phrasen wie „das Beste“ u. ä. verwendet, dennoch bleibt es mir nicht erspart… „Land of the Miracle“ gehört aus meiner Sicht zu den besten Vertretern seiner Zunft. Wenn mir jemand sagen würde, ich solle die besten 10 Metal-Balladen der Welt notieren (zum Glück hat mich noch nie jemand gefragt, da wären sehr harte Entscheidungen zu treffen), würde ich „Land of the Miracle“ zumindest einen Platz unter meinen Top 3 zutrauen. Der Text ist gut (klar ist er cheesy, das darf er in dieser Disziplin aber schon auch sein, finde ich), vor allem aber ist die Nummer einfach dermaßen geil komponiert, dass mir die Superlative ausgehen. Die ruhige Einleitung mit Klavier, dann die stoischen Riffs, die doppelläufigen Gitarrenleads, der bombastische Refrain sowie der sich dramatisch steigernde Verlauf, der mit einem hörenswerten Kanon und einem A-Capella-Chorus im Finale seinen Höhepunkt findet – das alles und, am wichtigsten, wie diese Elemente ineinander greifen und verwoben sind, führt zu meiner kaum zu bändigenden Begeisterung. Keine Ahnung, was Tobias Sammet diesen Geistesblitz beschert hat, aber hier hat er sich wirklich selbst übertroffen.
Damit kann ich auch für „Theater of Salvation“ nur die Höchstwertung zücken. Das Album unterhält von vorne bis hinten irrsinnig gut. Das war auch schon bei „Vain Glory Opera“ so, diesmal ist die Sache aber ein wenig anders. Denn im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der mit schneller und einfacher Zugänglichkeit für gute Laune sorgt, gibt es auf vorliegender Platte auch einiges zu entdecken, was die Halbwertszeit deutlich erhöht. Wenn man unbedingt ein Haar in der Suppe finden möchte, wären das wohl die manchmal allzu ausufernden Wiederholungen der Refrains (z. B. in am Ende von „Babylon“). Weil die aber sehr gut geschrieben sind, hält sich der Ärger darüber in Grenzen – zu Abnutzungserscheinungen kann es aber mitunter schon führen.
Sehr, sehr schön gemacht, Edguy!
Gesamteindruck: 7/7
No | Titel | Länge | Note |
1 | The Healing Vision | 1:11 | 5/7 |
2 | Babylon | 6:10 | 7/7 |
3 | The Headless Game | 5:31 | 6/7 |
4 | Land of the Miracle | 6:32 | 7/7 |
5 | Wake Up the King | 5:43 | 7/7 |
6 | Falling Down | 4:36 | 5/7 |
7 | Arrows Fly | 5:03 | 6/7 |
8 | Holy Shadows | 4:31 | 7/7 |
9 | Another Time | 4:07 | 4/7 |
10 | The Unbeliever | 5:47 | 6/7 |
11 | Theater of Salvation | 14:10 | 7/7 |
1:03:21 |
Edguy auf “Theater of Salvation” (1999):
- Tobias Sammet − Vocals, Keyboards
- Jens Ludwig − Guitars, Backing Vocals
- Dirk Sauer − Guitars, Backing Vocals
- Tobias Exxel − Bass
- Felix Bohnke − Drums
3 Gedanken zu “MusikWelt: Theater of Salvation”