„Waking Mars“ wurde von Tiger Style programmiert. Noch nie davon gehört? Ich auch nicht. Verwunderlich ist das nicht, denn im Katalog des Indie-Studios stehen zum Zeitpunkt dieser Rezension (April 2022) genau drei Spiele, deren letztes aus 2015 datiert. Das alles sagt freilich nichts über die zweifellos vorhandene Qualität von „Waking Mars“ aus – der ganz große Wurf ist dem Entwicklerteam damit aber leider nicht gelungen.
Gesamteindruck: 4/7
Als Gärtner auf dem Mars.
Dass ich „Waking Mars“ ausgerechnet jetzt gespielt habe, ist einem ungleich älteren Programm zu verdanken: Ich hatte mich kurz zuvor ausführlich mit „Martian Dreams“ (1991), einem Spin-off der legendären „Ultima“-Rollenspielreihe, beschäftigt. Wie dessen Name nahelegt, ist man auch dort auf dem Mars unterwegs – und irgendwie wollte ich den Roten Planeten noch nicht verlassen. Interessanterweise (und das habe ich erst beim Spielen von „Waking Mars“ richtig realisiert) verbindet die beiden Programme, zwischen denen fast genau 20 Jahre liegen, ein Teil ihrer Prämisse. Und damit meine ich nicht unbedingt den Schauplatz.
Darum geht’s:
In nicht allzu ferner Zukunft passiert das, womit niemand mehr gerechnet hat: Unter der Oberfläche des Mars wird Leben entdeckt. Der Biologe Dr. Liang ist der erste Mensch, der es erforschen soll, nachdem bisher nur Roboter in die Tiefe geschickt wurden. Schnell entdeckt der Wissenschaftler, dass sich die Kreaturen erheblich von allem unterscheiden, das auf der Erde so kreucht und fleucht. Als schließlich ein Teil des gigantischen Höhlennetzes, in dem er sich aufhält, einstürzt, muss er eine neue Route zurück an die Oberfläche finden – und sich dabei die marsianische Flora und Fauna zunutze machen…
Wer „Martian Dreams“ gespielt hat, wird nicht umhin können, die Parallelen in der Idee, wie Leben auf dem Mars aussehen könnte, zu erkennen: Als für uns völlig fremde Mischform aus Tier und Pflanze, teilweise sogar in der Lage, sich fortzubewegen. Ich finde das durchaus bemerkenswert, gerade weil ich die beiden Spiele direkt hintereinander erlebt habe. Abgesehen davon haben sie freilich nicht viel gemein, wie man sehr bald nach Spielbeginn feststellt: „Waking Mars“ ist im Kern eine Art Platformer (ein sehr spezieller wohlgemerkt, aber darauf kommen wir noch), Rollenspielelemente á lá „Martian Dreams“ sucht man vergeblich. Das aber nur am Rande, die Spiele sind ohnehin nicht miteinander vergleichbar, die Überschneidungen im Schauplatz und in der Idee, wie fremdes Leben funktionieren könnte, musste ich aber einfach erwähnen.
Stellen wir uns nun aber zunächst der überraschend schwierigen Frage, was für eine Art Spiel „Waking Mars“ eigentlich ist. Spielmechanisch könnte man es wohl am ehesten als Mischung aus zweidimensionalem Jump ’n‘ Run und Shoot ‚em Up in Seitenansicht bezeichnen. Wobei das nicht sonderlich treffend ist, weil sowohl das typische Laufen und Hüpfen als auch das Schießen fehlen: Man kann theoretisch zwar rennen, die meiste Zeit fliegt/schwebt man allerdings mittels Jetpack durch die Gegend; Waffen gibt es hingegen überhaupt keine (!). Das Spiel besteht aus rund 25 großteils voneinander unabhängigen Räumen, in denen man sich im Gegensatz zu älteren Spielen genannter Genres in alle Richtungen frei bewegen kann. Und man kann zwischen einmal betretenen Räumen auch beliebig oft wechseln, was in klassischen Jump n‘ Runs in der Regel nicht möglich ist. Der Anmutung zum Trotz erinnert das Konzept der einzelnen Abschnitte, in denen jeweils eine größere Aufgabe zu erfüllen ist, ein wenig an ein Grafik-Adventure.
Doch auch das trifft es nicht, denn es gibt kein Inventar im eigentlichen Sinne und die Rätsel laufen letzten Endes immer auf das Gleiche hinaus: Erhöhe die Biomasse in einem Raum bis zu einem bestimmten Wert. Diese Aufgabe erfüllt man, indem man sich als Gärtner betätigt: Jede „Zoa“ (so die Bezeichnung der Lebensformen im Spiel) verfügt über Samen (wobei es keine Samen im irdischen Sinne sind, aber der Einfachheit halber würde ich es trotzdem so nennen). Aufgabe des Spielers/der Spielerin ist es, diese Samen aufzuklauben (das ist die einzige Inventarfunktion) und an geeigneter Stelle einzupflanzen. Verschiedene Zoas haben unterschiedliche Fähigkeiten, die sich gegenseitig ergänzen oder in Wechselwirkung zueinanderstehen. So schafft man durch geschicktes Agieren zum Teil bildschirmfüllende Ökosysteme, die sich selbst erhalten. Je mehr Zoas, desto höher wird die Biomasse in einem Bereich; wird eine gewisse Grenze überschritten, kann man den nächsten Raum erreichen.
Und so arbeitet man sich nach und nach tiefer in das Höhlensystem vor, schaltet Räume frei und lernt neue Lebensformen und ihre Fähigkeiten kennen, bis man zum Schluss erfährt, was es mit dem Leben auf dem Mars eigentlich auf sich hat. Der Schwierigkeitsgrad ist generell nicht allzu hoch, was in Kombination mit dem auch nicht gerade üppigen Umfang dazu führt, dass man „Waking Mars“ relativ schnell durch hat. Erwähnt sei an dieser Stelle noch, dass das Spiel eigentlich als Mobile Game konzeptioniert wurde und erst später seinen Weg auf den PC gefunden hat. Was die Steuerung betrifft ist die Konvertierung erstaunlich gut gelungen, auch gegen Grafik und Sound habe ich absolut nichts einzuwenden. Und: „Waking Mars“ macht letztlich deutlich mehr und auch länger Spaß, als man es von den üblichen Handyspielchen kennt. Deren Suchtpotenzial entfaltet es aber allemal, sodass man eigentlich von einem rundum gelungenen Erlebnis sprechen möchte – wenn da nicht ein paar Dinge wären, die die Laune ordentlich vermiesen können.
Problematisches Design.
Vor allem gibt es ein paar Designentscheidungen, die ich nicht ganz glücklich finde. Zwei davon haben die Zeitspanne, in der ich mich mit „Waking Mars“ beschäftigt habe (insgesamt etwas über 15 Stunden), deutlich erhöht – das aber leider nicht auf die angenehme Art: Erstens kann man sich in eine Sackgasse manövrieren, denn nicht jede Pflanze gibt gleich viel Biomasse. Pflanzt man falsch, hat man ein Problem und kommt nur weiter, indem man mühsam Samen aus weit entfernten Räumen zusammensucht. Mir ist es aber noch schlimmer ergangen: Ich habe eine Zoa-Art versehentlich ausgerottet (das kann nach falsche Bepflanzung im Extremfall sogar ohne eigenes Zutun passieren), sodass ich in den Bereichen des Spiels, zu denen ich Zugang hatte, keine ihrer Samen mehr bekommen konnte. Trotz aller Versuche, das mit dem vorhandenen Material irgendwie zu korrigieren und peinlich genauen Absuchens der mir zur Verfügung stehenden Karte, ist es mir nicht gelungen, weiterzukommen, sodass ich komplett neu starten musste. Schlechterdings informiert „Waking Mars“ nicht über solche Fehler, was den Frust in schwindelerregende Höhen treibt.
Der andere Punkt, der reale Lebenszeit raubt, ist nicht weniger doof: Ganz zum Schluss gilt es, einen bestimmten Raum zu finden. Der Eingang ist aber dermaßen versteckt und so im Widerspruch zu allem, was man bis dahin gelernt hat, dass es mir ohne Komplettlösung nicht gelingen wollte. Der Frust war umso größer, weil ich – eingedenk oben geschilderter Erfahrung – die ganze Zeit das Gefühl hatte, ich hätte irgendwo falsch gepflanzt oder einen Punkt übersehen, an dem noch mehr Biomasse möglich gewesen wäre. Die Folge: Stundenlanges herumdüsen in bereits besuchten Gebieten, ohne Erfolg und zunehmend nervtötend.
Das schöne Gefühl, etwas zu Schaffen.
Diese beiden Probleme, auf die, wie im Netz gelegentlich zu lesen, auch andere Spieler:innen gestoßen sind, haben dafür gesorgt, dass ich „Waking Mars“ negativer in Erinnerung habe, als es eigentlich ist. Denn eines ist auch klar: Sobald man den Dreh raus hat und zusieht, wie ein Ökosystem immer mehr wächst und gedeiht, ist das schon sehr befriedigend. Dazu trägt auch die schöne Grafik bei, die wunderbar veranschaulicht, wie sich einst karge Höhlen in immer dichter bewachsene Gefilde verwandeln und sich selbst zu erhalten beginnen. Das ist wohl auch die größte Stärke von „Waking Mars“: Das Spiel ist – auch das ganz entgegen seiner Anmutung – das Gegenteil von destruktiv. Man baut hier etwas auf, das sich im besten Fall nach kurzem Anstoß ganz von selbst weiterentwickelt. Und das ist einfach ein schönes Gefühl…
Dass „Waking Mars“ relativ kurz ist (wenn man die Fehler nicht macht, die ich oben beschrieben habe), ist nicht unbedingt ein Nachteil. Denn dadurch relativiert sich eine andere Schwäche ein wenig, die eventuell mit der Entwicklung als Mobile Game zu tun haben könnte: Das Spiel ist leider nicht sonderlich abwechslungsreich und anspruchsvoll. Die Räume unterscheiden sich zwar in Optik, Größe und Aufbau – letzten Endes macht man aber doch immer das selbe. Samen einsammeln, mal die eine, mal die andere Zoa pflanzen, alles beobachten, hier und da ein wenig nachjustieren bis die maximale Biomasse erreicht ist. Trotz unterschiedlicher Pflanzen und der einen oder anderen Gefahr ist das Spiel auf Dauer relativ gleichförmig und nutzt sich unweigerlich ab. Und auch der Wiederspielwert ist enden wollend: Klar kann man bei einem neuen Durchgang versuchen, hier und da etwas anders vorzugehen (das habe ich bei meinem unfreiwilligen Neustart auch gemacht). Allein: Die Aufgaben und die Räume bleiben exakt gleich (prozedural generiert ist hier nichts, dabei hätte sich das Spielprinzip dafür angeboten) und sehr viele unterschiedliche Lösungswege gibt es nicht.
Charaktere und Voice Acting.
Was man sich bei Tiger Style komplett hätte verkneifen sollen: Niemand, wirklich absolut niemand, braucht eine künstliche Intelligenz, die Witze reißt. Ich kann mich an kein Beispiel erinnern, wo ein zwanghaft lustiger Roboter tatsächlich unterhalten hat – so auch hier nicht: Die Wortmeldungen von ART, so der Name des „Begleiters“, der der Spielfigur beim Klassifizieren der Flora/Fauna hilft, sind völlig überflüssig und katastrophal unlustig. Aber das nur am Rande, ein echter Beinbruch ist es zum Glück nicht, auch, weil es gar nicht so viele Dialoge mit der ihm gibt.
Apropos Dialog: Neben ART (nervig) und dem eigenen Charakter (nachdenklich) gibt es im Wesentlichen nur eine weitere Figur. Armani, die Kollegin von Liang, ist im Basislager und nimmt hin und wieder per Funk Kontakt auf. Im Prinzip dient das nur dazu, die Story ein wenig voranzutreiben, es sei aber gesagt, dass das Voice Acting beider Figuren positiv auffällt ist. Auch nicht selbstverständlich für ein Indie-Spiel.
Eine Frage der Erwartungen.
Doch wie ist das Ganze nun zu bewerten? All die genannten Punkte – darunter geringer Schwierigkeitsgrad, leicht zu erlernende und sich ständig wiederholende Aufgaben, überschaubarer Umfang, wenig Variation der Möglichkeiten – zeigen meines Erachtens, dass „Waking Mars“ nicht für Leute entwickelt wurde, die auf „Martian Dreams“ stehen (um ein Beispiel zu nennen). Vom generischen Mobile Game hebt es sich dennoch wohltuend ab – auch, weil es eine schöne Geschichte erzählt. Wahnsinnig innovativ ist diese zwar nicht – aber immerhin mehr, als man sonst von einem Handyspiel erwarten würde.
Wer sich daran versuchen möchte, macht meines Erachtens nicht viel falsch. Es ist halt eine Frage der Erwartungen: Wer sich damit zufrieden gibt, schöne Bilder zu sehen, gute Musik zu hören und insgesamt ein relativ relaxtes Spielerlebnis bevorzugt, wird kann wohl einen Punkt zu meinem Gesamteindruck addieren. Wer hingegen wirklich abwechslungsreiche Herausforderungen sucht, die vielleicht auch noch Geschick an der Maus erfordern, wird eventuell enttäuscht von „Waking Mars“ sein. Denn es dauert nicht allzu lange, bis man den repetitiven Charakter des Spiels entdeckt. Das ist per se nicht unbedingt schlecht, zumal das Spiel dann doch deutlich vom simplen Belohnungssystem anderer Mobile Games abweicht – mir persönlich war es auf Dauer aber doch ein bisschen zu wenig, um eine höhere Bewertung springen zu lassen.
Gesamteindruck: 4/7
Genre: Adventure/Platformer
Entwickler: Tiger Style
Publisher: Tiger Style
Jahr: 2012
Gespielt auf: PC
Screenshots aus „Waking Mars“ – Copyright beim Entwickler!