BuchWelt: Die Wolke

Gudrun Pausewang


Für mich, Jahrgang 1979, ist das Wort „Tschernobyl“ einer der prägendsten Begriffe der Kindheit. Der Tag, an dem wir von der Schule heimgeschickt wurden, direkt ins Haus mussten und uns von der Sandkiste fernzuhalten hatten (ja, ausgerechnet das ist auch eine sehr lebhafte Erinnerung!), hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Und auch heute, ziemlich genau 35 Jahre später, ist „Tschernobyl“ immer noch mehr als ein Ortsname; es ist ein Wort, das seinen düsteren Klang nie verloren hat. Zumindest nicht für jene, die damals dabei waren. Damals, als Europa und die Welt den Atem anhielten.

Gesamteindruck: 6/7


Ein Mahnmal.

Die deutsche Autorin Gudrun Pausewang (+ 2020) hat den Jugendroman „Die Wolke“ 1987 verfasst. Zu jener Zeit stand die Welt noch voll und ganz unter dem Eindruck der Katastrophe von Tschernobyl (26. April 1986). Dennoch ist das Buch nicht ihr erster Beitrag zur damals allgegenwärtigen atomaren Bedrohung: Bereits 1983 skizzierte sie in „Die letzten Kinder von Schewenborn oder …sieht so unsere Zukunft aus?“ einen Atomkrieg in Deutschland. Hieran – und an vielen anderen zeitgenössischen Beiträgen unterschiedlicher Kunstrichtungen – ist abzulesen, wie unheimlich die Welt mitten im Kalten Krieg gewirkt haben muss (und wohl auch war). Und dieser Schrecken ist bis heute nicht gewichen, jedenfalls nicht für die, die sich erinnern können – oder wollen.

Worum geht’s?
Deutschland, Mitte der 1980er Jahre: Nach einem Super-GAU im Kernkraftwerk Grafenrheinfeld wird Katastrophenalarm ausgelöst. Die völlig unvorbereitete Bevölkerung bleibt in den ersten Stunden nach dem Zwischenfall sich selbst überlassen – was zu Massenpanik und tausenden Toten führt. Mitten im Chaos versuchen die Jugendliche Janna-Berta und ihr kleiner Bruder Uli der radioaktiven Wolke zu entkommen, die der Wind in ihre Richtung treibt. Ob die Eltern noch leben oder schon tot sind, wissen sie nicht – und auf der Flucht zeigt sich, dass plötzlich jede:r sich selbst der/die Nächste ist

Ich frage mich ja, ob das Wort Tschernobyl für die Jugend von heute noch jene Bedeutung hat wie für meine Generation – oder ob das Ereignis mittlerweile einfach zu weit weg ist, um überhaupt angemessen vermittelbar zu sein. Klar, seither gab es mit Fukushima (11. März 2011, 2012 übrigens im Roman „Noch lange danach“ von Gudrun Pausewang thematisiert) eine zwar nicht ganz so große, aber immer noch schreckliche Katastrophe – die ereignete sich aber am anderen Ende der Welt, wodurch ihr die Unmittelbarkeit von Tschernobyl fehlt. Bei mir hat die Kernschmelze im fernen Japan jedenfalls keinen dermaßen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, wie es noch 1986 der Fall gewesen war, als halb Europa die Schattenseiten der Kernenergie am eigenen Leib erfahren musste (und dabei war das „nur“ eine Art Streifschuss, wenn man so will).

Eine eindringliche Schilderung.

In „Die Wolke“ beschreibt Gudrun Pausewang sehr eindringlich, was passieren könnte, wenn ein ähnlicher Unfall im Herzen unseres dicht besiedelten Kontinents stattfinden würde. Auf technische Einzelheiten verzichtet sie dabei, viel mehr als den Ort des Super-GAUs und dass die Katastrophe als deutlich schlimmer als Tschernobyl eingestuft wird (entsprechend hoch ist die Anzahl der Todesopfer), erfährt man im Endeffekt nicht über das Ereignis selbst. Diese Herangehensweise entbindet die Autorin letztlich davon, sich in wissenschaftlichen Details zu verstricken. Nun könnte man Pausewang natürlich vorwerfen, dass die Geschichte, die sie erzählt, dadurch übertrieben, ja fast schon wie Panikmache, wirkt. Wer das denkt, sollte sich allerdings vergegenwärtigen, dass „Die Wolke“ kurze Zeit nach einem Unfall geschrieben wurde, der passiert war, obwohl alle Welt davon ausgegangen war, dass Kernenergie absolut sicher sei. Bereits im Jahr danach drohte die Katastrophe in Vergessenheit zu geraten und verdrängt zu werden – dass sich dieser Trend immer mehr verstärken würde, hat Pausewang vorhergesehen und gerade deshalb so drastische Worte für ihren Roman gewählt. Zu Recht, wie uns Fukushima gezeigt hat: Das Undenkbare ist tatsächlich wieder passiert und kann jederzeit erneut geschehen (Ironie des Schicksals, dass ich diese Zeilen im November 2021 schreibe, kurz nachdem Frankreich angekündigt hat, künftig wieder verstärkt auf Kernenergie zu setzen).

Bedrückende Aussichten.

„Die Wolke“ ist meines Erachtens auf drei Ebenen bedrückend und gerade deshalb eine sehr wirkungsvolle Warnung. Erstens scheut sich die Autorin nicht, in einem Buch, dass sich vor allem an Jugendliche richten soll, Tod und Verderben ausgesprochen auf fast beiläufige Art zu schildern. Das ist dem Thema durchaus angemessen, ich hätte es aber in einem Jugendbuch nicht so brutal erwartet. Die zweite Ebene betrifft die räumliche Nähe des Geschehens: Ich bin zwar Österreicher, dennoch empfinde ich die Orte, die in „Die Wolke“ vorkommen, als unmittelbare Nachbarschaft. Das jeder dieser Orte real existiert, macht das Buch meines Erachtens besonders unheimlich: Die Familie der Protagonistin wohnt in Schlitz (in der Nähe von Fulda, Gudrun Pausewang lebte bis 2016 mit Unterbrechungen selbst dort), die Katastrophe spielt sich im Kernkraftwerk Grafenrheinfeld, ab (dessen Außerbetriebnahme im Jahr 2015 die Autorin übrigens noch miterleben durfte), es kommen Orte wie Schweinfurt, Wiesbaden, Hamburg usw. vor.

Der dritte Punkt, den ich hervorheben möchte, hat mit der Perspektive der Schilderung zu tun. Pausewang gelingt es hervorragend, die Situation aus Sicht der jungen Heranwachsenden zu erzählen. Eine Gabe, die viele Jugendbuchautor:innen haben – hier ist es mir aber besonders positiv aufgefallen, weil es die Art und Weise, wie sich die Geschichte entwickelt, noch einmal dramatischer erscheinen lässt. Im Kern bedeutet das, das man als Leser:in eben nicht allwissend ist, sondern im Wesentlichen die gleichen Informationen hat, wie die junge Heldin. Mit der wollen die ach-so-klugen Erwachsenen kaum vernünftig sprechen, was sie über die Katastrophe mitbekommt, stammt aus Nachrichtenschnipseln und Gesprächsfetzen, die sie mal mehr, mal weniger gut einordnen kann.

Damit schließt sich im Übrigen der Kreis zur oben genannten Unwissenschaftlichkeit des Romans: Er ist zwar nicht in der Ich-Form, aber doch aus der Sicht einer Schülerin geschrieben und liest sich im Großen und Ganzen genau so. Umso bedrückender ist das Geschehen, umso drastischer die Schilderung. Dabei ist die Atomkatastrophe zu allem Überfluss nicht der einzige Tiefpunkt: Ein Gutteil der Geschichte dreht sich um die Flucht vor der radioaktiven Wolke, die in einigen Mitmenschen das Schlimmste hervorbringt. Wer das für übertrieben hält oder denkt, dass wir es längst hinter uns gelassen haben, wird durch die Corona-Pandemie aktuell eines Besseren belehrt, aber das nur am Rande…

Vom Lesegefühl her ist „Die Wolke“ ein kurzweiliges, schnell zu lesendes Buch. Die Sprache ist einfach und klar, die Geschichte sehr spannend. Von daher trägt der Roman den Jugendbuch-Sticker wohl zu recht – ich würde aber trotzdem auch jedem/jeder erwachsenen Leser:in empfehlen, einen Blick hineinzuwerfen. Es lohnt sich (zumal man in ein, zwei Abenden durch sein sollte) und hilft, die Erinnerung aufzufrischen und sich wieder bewusst zu machen, warum die Kernenergie auch heute noch keine sonderlich gute Idee ist.

Fazit: „Die Wolke“ ist eine der wichtigsten und eindringlichsten Warnungen vor einer Gefahr, die heute leider so groß zu sein scheint, wie eh und je.

Gesamteindruck: 6/7


Autor: Gudrun Pausewang
Originaltitel: Die Wolke.
Erstveröffentlichung: 1987
Umfang: ca. 220 Seiten
Gelesene Sprache: Deutsch
Gelesene Version: Taschenbuch

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BuchWelt: Keltengrab

Patrick Dunne


„Keltengrab“ (2005) ist das erste von drei zum Zeitpunkt dieser Rezension erhältlichen Romanen über die Archäologin Illaun Bowe. Interessanterweise verfügt Autor Patrick Dunne nur über einen sehr knapp gehaltenen Eintrag in der deutschsprachigen (!) Wikipedia, in dem nicht einmal sein Geburtsdatum vermerkt ist. Ein Eintrag in seiner Muttersprache fehlt hingegen; und auch sonst scheinen die Informationen über ihn dünn gesät zu sein, was heutzutage schon sehr außergewöhnlich ist.

Gesamteindruck: 1/7


Irische Moorleichen.

Ganz ehrlich: Ich hätte mir „Keltengrab“ wohl nie gekauft, wenn ich im Off- oder Online-Buchhandel zufällig über das Werk gestolpert wäre. Weder Cover noch Klappentext unterscheiden sich großartig von einer Vielzahl ähnlicher Bücher, die meist von deutlich bekannteren Schriftstellern stammen (was nicht heißen soll, dass ein bekannter Name automatisch für Qualität bürgt). Dank eines offenen Bücherschranks habe ich „Keltengrab“ nun aber doch zu lesen bekommen – und muss konstatieren, dass ich unterwältigt war. So gesehen verwundert es auch nicht, wenn man trotz vermutlich erklecklicher Verkaufszahlen noch nie etwas von Patrick Dunne gehört hat.

Worum geht’s?
Nahe der prähistorischen Kultstätte Newgrange in Irland werden kurz vor Weihnachten bei Bauarbeiten zwei Moorleichen gefunden. Archäologin Illaun Bowe hofft, dass die Körper – eine erwachsene Frau und ein Säugling – aus vorchristlicher Zeit stammen und beginnt mit ihren Untersuchungen. Doch bald stellt sich heraus, dass es gefährlich ist, wenn man zu viel über das Moor, die Kultstätte und ein nahegelegenes Kloster herausfindet…

Was fällt mir heute, wenige Tage nach der Lektüre von „Keltengrab“, zuerst ein, wenn ich an das Buch denke? Ich wünschte, ich könnte sage, es wäre die fieberhafte Hochspannung, mit der ich die Seiten regelrecht gefressen habe. Oder die großartigen Charaktere, die dramatische Handlung – oder einfach das Gefühl, ein gutes Buch gelesen zu haben. Die Wahrheit ist leider deutlich profaner: „Keltengrab“ ist ein Buch, in dem ständig jemand Verabredungen verschiebt oder organisiert. Ja, richtig gelesen, das ist das, was mir vorrangig im Gedächtnis geblieben ist.

Immerhin hätte es noch schlimmer kommen können: Die merkwürdige Beschreibung von den Versuchen der Hauptfigur, ihren Alltag zu organisieren, überdecken weitgehend das während der Lektüre immer mal wieder aufkommende Bedürfnis, „Keltengrab“ vorzeitig abzubrechen. Ein vernichtendes Urteil, ich weiß – und doch stehe ich dazu, ich empfand das Werk über weite Strecken als nichtssagend, wenig spannend und von völlig irrelevanten Charakteren bevölkert.

Trotz guter Ausgangsposition kein Page-Turner.

Dabei ist der Ausgangspunkt durchaus interessant, denn der Fund von vermeintlich prähistorischen Leichen – egal, ob in Mooren, Gletschern oder Pyramiden – ist immer von einem mystischen Hauch umgeben. Hier kommt noch ein nass-kaltes, winterliches Irland hinzu, ein Handlungsort, der das seinige zur düsteren Atmosphäre von „Keltengrab“ beiträgt. Und ja, auch die Idee eines Klosters, das seit Unzeiten ein dunkles Geheimnis verbirgt, das sich im Laufe der Jahrhunderte allen Versuchen einer Entschlüsselung entzogen hat, ist eine gute und Spannung versprechende Idee. Allein: „Keltengrab“ ist trotz dieser Zutaten alles andere als ein Pageturner.

Denn Patrick Dunne schafft es zu keinem Zeitpunkt, die brauchbaren Versatzstücke zu einer guten Geschichte zu verarbeiten. Das liegt – wie so oft – an mehreren Faktoren: „Keltengrab“ kann weder in punkto Handlung, noch in Bezug auf Charaktere oder Dialoge überzeugen. Das geht sogar so weit, dass ich nicht genau sagen kann, welcher dieser Punkte das größte Übel ist; meiner Meinung nach kann der Autor in keiner Kategorie glänzen. Die Dialoge sind wahrscheinlich der kleinste Unsicherheitsfaktor – sie sind im Endeffekt weder gut noch schlecht, sondern schlichter Durchschnitt, was aber irgendwo auch logisch ist. Was sollen die Figuren auch Weltbewegendes zu sagen haben, wenn sie selbst und die Handlung, über die sie sprechen, kein Interesse zu wecken vermögen?

Elemente greifen nicht ineinander.

Bei den Charakteren haben wir es bei der Ich-Erzählerin (was für ein von einem Mann geschriebenes Buch eher ungewöhnlich ist) Illaun Bowe mit einer nüchternen Wissenschaftlerin zu tun. Bis auf ihr Berufsfeld fehlen ihr aber so gut wie alle Eigenschaften, die sie zu einer Identifikationsfigur machen würden. Ihre Gefühlswelt und ihre Geschichte bleiben dem Leser weitgehend verschlossen, sodass sie für mein Empfinden eine der uninteressantesten Hauptfiguren ist, die ich seit vielen Jahren kennenlernen durfte. Brauchbar sind, wie oben angedeutet, einzelne Ausführungen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und die eine oder andere Landschaftsbeschreibung, die aus stilistischen Gründen natürlich auch von Illaun Bowe kommen. Und, als wäre das alles nicht schlimm genug, gibt es in „Keltengrab“ auch abseits der Hauptfigur keinen memorablen Charakter, weder auf der guten noch auf der bösen Seite. Am ehesten entspricht noch der ermittelnde Beamte meiner Vorstellung einer kantigen Figur – aber letztlich ist auch er nicht viel mehr als ein flaches Abziehbild eines tiefgründigen Charakters.

Ähnlich schwach präsentiert sich die Handlung von „Keltengrab“. Die Versuche, hinter das Geheimnis der Moorleichen zu kommen, sind einerseits nicht sonderlich spannend, andererseits wirkt die Geschichte konfus und wenig einleuchtend. Das Ergebnis: Würde mich jetzt, ein paar Tage nach der Lektüre, jemand nach einer Zusammenfassung des Falles, den die Charaktere in diesem Buch untersuchen, fragen, wüsste ich tatsächlich nicht, was sich im Detail zugetragen hat. Es mag sein, dass das daran liegt, dass meine Konzentration während des Lesens immer wieder nachgelassen hat – aber auch, wenn dem so ist, ist das kein gutes Zeichen für die Qualität von „Keltengrab“.

Und so bleibt mir leider nur ein Fazit: Finger weg. „Keltengrab“ ist nicht sonderlich spannend, es verfügt über keine guten Charaktere und es ist – was vielleicht an der Übersetzung liegt – auch nicht allzu gut geschrieben. Ob ein paar gelungene Landschaftsbeschreibungen des winterlichen Irland und der geheimnisvolle Fundort einer Moorleiche ausreichend Grund für eine Lektüre sind, wage ich zu bezweifeln. Ich persönlich glaube nach dieser Erfahrung jedenfalls nicht, dass ich nochmal meine Zeit für ein Buch von Patrick Dunne opfern werde.

Gesamteindruck: 1/7


Autor: Patrick Dunne
Originaltitel: A Carol for the Dead.
Erstveröffentlichung: 2005
Umfang: ca. 420 Seiten
Gelesene Sprache: Deutsch
Gelesene Version: Taschenbuch

BuchWelt: Die weiteren Aussichten

Robert Seethaler


„Die weiteren Aussichten“ im Hochsommer 2021 zu lesen, war ein Glücksfall. Nicht nur, weil das Buch des österreichischen Autors Robert Seethaler ein höchst unterhaltsames Werk ist, sondern auch und vor allem weil die Temperaturen, die zum Zeitpunkt dieser Rezension hier in Wien vorherrschen, es ungemein erleichtern, in die richtige Stimmung zu kommen. Mit anderen Worten: Es ist drückend heiß hier, genau wie im Buch.

Gesamteindruck: 7/7


Herbert und Hilde.

Von Robert Seethaler habe ich bis zum Zeitpunkt dieser Rezension nur „Der Trafikant“ (2012) gelesen, ein Werk, das mir sehr gut gefallen hat. „Die weiteren Aussichten“ ist bereits 2008 erschienen, war nach dem Debüt „Die Biene und der Kurt“ (2006) das zweite Buch des Autors – und wurde von mir mit großem Vergnügen gelesen. Dabei ist die Handlung eigentlich relativ dünn, gleichzeitig aber auch eine sehr eigenwillige Mischung aus Absurdität und Realismus, angereichert mit einer guten Portion Lokalkolorit.

Worum geht’s?
Irgendwo an einer anonymen und kaum befahrenen Landstraße führt Helene Szevko gemeinsam mit ihrem Sohn Herbert eine Tankstelle. Los ist nichts, weder allgemein noch im Privatleben der beiden. Bis eines Tages eine Frau auf ihrem Klapprad an der Tankstelle vorbeifährt und es sofort um den als Sonderling verschrienen, jungen Mann geschehen ist. Er folgt ihr zu ihrer Arbeit im dörflichen Hallenbad, lässt sich dort (unfreiwillig) von ihr retten – und damit beginnt eine abenteuerliche Liebesgeschichte

Zu beschreiben, wie sich „Die weiteren Aussichten“ liest, fällt mir erstaunlich schwer. Klar, es ist ein Buch von Robert Seethaler – dennoch unterscheidet sich, zumindest in meiner Erinnerung, der Stil recht stark von dem, den der Autor in „Der Trafikant“ nutzt. Für mein Dafürhalten ist vorliegendes Werk deutlich leichter, sozusagen locker-flockiger geschrieben und liest sich auch entsprechend flott. Eine Vergleichsmöglichkeit will mir auch nicht wirklich einfallen, eventuell hat man bei einzelnen Passagen ein leichtes Gefühl von Wolf Haas, insgesamt agiert Seethaler aus meiner Sicht aber komplett eigenständig.

Inhaltlich ist das Buch eine Mischung aus Liebesgeschichte, Roadmovie (Gibt’s dazu eigentlich eine literarische Entsprechung mit einem eigenen Namen?), ein wenig Tragikomödie und eine Prise Entwicklungsroman. Klingt nach einem wilden Durcheinander, ist es rein von der Handlung her auch ein bisschen; das Lesegefühl ist interessanter- und glücklicherweise dennoch rund und stimmig: Alles greift nahezu perfekt ineinander, so wie es bei einem guten Roman eben sein sollte. Besonders bemerkenswert: Obwohl Robert Seethaler diverse Unwahrscheinlichkeiten, Zufälle und Skurrilitäten verarbeitet, erzeugt „Die weiteren Aussichten“ ein durchaus bodenständiges Gefühl beim Leser.

Liebenswerte Figuren.

Das hat freilich auch mit den durch und durch sympathischen Charakteren zu tun. Drei Hauptfiguren gibt es: Die resolute, im Grunde ihres Herzens aber gutmütige Helene, die ihren Sohn mit harter Hand leitet, deren Liebe zu ihm aber immer wieder durchschimmert. Dann die wortkarge, jedoch (oder gerade deshalb) starke Hilde, die sich bald in der Zwickmühle zwischen Mutter und Sohn befindet, diese Situation aber einigermaßen stoisch meistert und schließlich zu beiden emotionale Bande aufbauen kann. Und dann, als eigentliche Hauptperson, der absolute Anti-Held Herbert. Der ist nicht gerade ein Adonis, war bereits als Kind als Epileptiker körperlich angeschlagen und ist letztlich auch kein Geistesriese – eher einer aus der Kategorie ewiger aber sympathischer Verlierer. Bei ihm ist die Entwicklung innerhalb des Romans am stärksten: Vom behüteten Muttersöhnchen hin zu einer Art Held, der – freilich in vollkommen absurden Situationen – immer mehr Selbstbewusstsein entwickelt.

Einen schönen Kniff des Autors möchte ich auch noch erwähnen: Zwischen den einzelnen Kapiteln baut er immer wieder Episoden über „den kleinen Herbert“, also kurze Abrisse aus der Kindheit des Hauptcharakters, ein. Auch die sind durch und durch sympathisch und wirken zu keinem Zeitpunkt wie ein Fremdkörper. Im Gegenteil, sie sorgen dafür, dass man mit dem Helden wider Willen fiebert – trotz und wegen all seiner Defizite. Und: Seethaler setzt eigentlich kaum auf Dialoge. Dass man sich trotzdem so sehr mit seinen Figuren identifizieren kann, möchte ich fast als Meisterleistung der Schreibkunst bezeichnen.

Skurrile Geschichte.

Die Geschichte, die Seethaler erzählt, führt die drei Hauptpersonen nach einigen Irrungen, Wirrungen und Zufällen durch irgendeine namenlose Provinz. Häufig nutzt der Autor das, um diverse Merkwürdigkeiten des Landlebens aufzugreifen; wer selbst einmal dort gelebt hat, wird einiges davon aus erster Hand bestätigen können. Angemerkt sei aber auch, dass ich nicht das Gefühl habe, dass Seethaler verurteilt: Er erweist sich vielmehr als scharfer Beobachter und gibt das wieder, was er selbst gesehen oder erlebt haben dürfte. Natürlich überzeichnet, dennoch muss man zugeben, dass das, was z. B. am „Schlachtsaufest“ passiert, nicht völlig von der Hand zu weisen ist.

Alles in allem ist „Die weiteren Aussichten“ ein Buch, das ich jedem empfehlen kann (wie man auch an der Höchstwertung sieht). Ich habe laut gelacht, ich habe fast geweint – und ich habe mich schlicht und einfach durchgehend gut unterhalten gefühlt. Wer all das erleben möchte und dabei vor der einen oder anderen Absurdität nicht zurückschreckt, sollte es auf jeden Fall mit diesem Werk probieren. Von mir aus hätten 100 oder 200 Seiten mehr jedenfalls nicht geschadet.

Gesamteindruck: 7/7


Autor: Robert Seethaler
Originaltitel: Die weiteren Aussichten.
Erstveröffentlichung: 2008
Umfang: ca. 320 Seiten
Gelesene Sprache: Deutsch
Gelesene Version: Taschenbuch

BuchWelt: Lobgesang auf Leibowitz

Walter M. Miller, Jr.


Ich könnte ad hoc nicht sagen, wie lange ich „Lobgesang auf Leibowitz“ schon auf meinem Stapel ungelesener Bücher (SuB) habe. Gefühlt dürfte es sich sogar um eines der ersten Werke handeln, das ich auf jenen (imaginären) Stoß gegeben habe, seit ich zur arbeitenden Bevölkerung gehöre und mir Bücher in größeren Mengen leisten kann. Nun, im Jahre des Herrn 2021 (um im Duktus der Abtei des Heiligen Leibowitz zu sprechen), habe ich endlich die Zeit gefunden, mich mit diesem gefühlt relativ unbekannten Klassiker der postapokalyptischen Science Fiction zu beschäftigen.

Gesamteindruck: 4/7


Wiederholungstäter.

Vordergründig ist „Lobgesang auf Leibowitz“ eine dystopische Science Fiction-Geschichte und behandelt in drei Teilen den Wiederaufstieg der Menschheit nach einer globalen Katastrophe. Autor Walter Miller geht davon aus, dass sich dieser Prozess in Schritten bzw. Epochen vollzieht, die der Vergangenheit unserer westlichen Zivilisation ähneln: „Fiat Homo“ spielt in einer Art Mittelalter, 600 Jahre nach einem großen Atomkrieg, „Fiat Lux“ wiederum 600 Jahre später in einem Zeitalter, das an die Renaissance erinnert und „Fiat Voluntas Tua“ noch einmal sechs Jahrhunderte später zu Beginn einer neuen Raumfahrt-Ära. Verbindendes Element ist die Arbeit der Mönche in der Abtei des Heiligen Leibowitz, irgendwo in einer Wüste im Südwesten von Amerika.

Worum geht’s?
Nachdem ein Atomkrieg die Erde verwüstet hatte, wurden sämtliche Bücher und Erkenntnisse, die die Katastrophe überstanden hatten, vernichtet. Wissenschaftler wurden ermordet, wo man ihrer habhaft werden konnte – alles, um eine neuerliche nukleare Auseinandersetzung zu verhindern. Ein gewisser Isaac Leibowitz war einer von wenigen, die versuchten, das alte Wissen zu bewahren, wofür er schließlich mit seinem Leben bezahlte. 600 Jahre später hat die Menschheit die Barbarei hinter sich gelassen und der Orden des mittlerweile als Märtyrer verehrten Leibowitz arbeitet daran, die letzten Überbleibsel der alten Zivilisation zu finden und zu bewahren, auf das irgendwann wieder eine Zeit der Erleuchtung folgen möge

Die Prämisse, dass ein christlich-religiöser Orden versucht, so viel wie möglich vom verloren gegangenen Wissen der Menschheit zu bewahren, ist sowohl groß- als auch einzigartig. Und das sage ich nicht nur, weil ich Endzeit-Geschichten generell mag: „Lobgesang auf Leibowitz“ stellt Fragen, die zur Zeit seiner Veröffentlichung relativ selten in der Science Fiction vorgekommen sind, beispielsweise nach dem Verhältnis zwischen Staat, Kirche und Wissenschaft, aber auch nach Segen und Fluch des Fortschritts. Ein großes Alleinstellungsmerkmal sind dabei die wechselnden Rollen, die die sich ändernden Zeiten widerspiegeln: Anfangs ist es ausgerechnet die Kirche, die das tut, was eigentlich Aufgabe der Wissenschaft wäre und die dadurch einen erneuten Aufschwung der Menschheit ermöglicht. Später erkennt niemand außer den Mönchen die Gefahren, die dieses Wissen birgt, wenn es ohne moralischen Kompass zum Einsatz kommt. All das hebt sich sehr stark vom damals üblichen Science Fiction-Roman ab – und ist auch in heutigen Genrebeiträgen alles andere als alltäglich.

Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, vorliegendes Werk „nur“ auf Science Fiction zu reduzieren. Neben den von mir beschriebenen moralischen Implikationen stellt das Buch eine zyklische Geschichte vor: Die 1.800 Jahre, die die Handlung abdeckt, spiegeln im Endeffekt die 1.800 Jahre wieder, wie sie vor dem fiktiven Atomschlag – also in unserer Realität – abgelaufen sind. Und dem Leser stellt sich damit die Frage, ob sich die Fehler, die die Menschheit begeht, zwangsweise wiederholen. Ich verrate wohl nicht zu viel, wenn ich sage, dass die Antwort von Walter Miller höchst pessimistisch ausfällt.

Kein überbordender Unterhaltungswert.

Doch auch, wenn ich die dahinterstehende Philosophie begrüßenswert und als hervorragende Anregung zum Nachdenken empfinde: „Lobgesang auf Leibowitz“ ist immer noch ein Roman, der unterhalten soll. Und das ist der Knackpunkt: Während ich „Fiat Homo“ mit großem Vergnügen gelesen habe und auch „Fiat Lux“ empfehlen kann, empfinde ich den finalen Abschnitt über weite Strecken als schwere Kost. Mag sein, dass das mit der Veröffentlichungsweise zu tun hat: Die drei Teile erschienen zwischen 1955 und 1957 als Novellen in einer amerikanischen Science Fiction-Zeitschrift, eine Gesamtveröffentlichung erfolgte erst 1960. Eventuell liegt es daran, dass „Fiat Voluntas Tua“ die Leichtigkeit seiner Vorgänger fehlt.

Letzten Endes sind diese Schwierigkeiten, die ich mit dem finalen Part der Geschichte habe, der Grund für meinen eher durchwachsenen Gesamteindruck. Philosophische Erwägungen sind ja schön und gut – in „Fiat Voluntas Tua“ hatte ich aber über weite Strecken nicht das Gefühl, dass der Autor wusste, wohin er eigentlich mit seiner Geschichte will. Oder, anders ausgedrückt: Die Story ist schon da, sie ist aber relativ dünn und wirkt, als wäre sie nur vorhanden, um eine Entschuldigung für große Philosophie zu haben (der ich ehrlich gesagt nicht sonderlich gut folgen konnte).

Was die Charaktere betrifft, gibt es wenig Grund zur Beschwerde. Vor allem die Hauptfigur in „Fiat Homo“, ein einfacher Mönch, der nicht weiß, wie ihm geschieht, als er plötzlich Artefakte des Heiligen findet, den sein Orden seit Jahrhunderten verehrt, ist dem Autor hervorragend gelungen. Speziell daraus zieht der erste Abschnitt seine leichte Lesbarkeit – Bruder Francis Gerard ist zwar sehr gläubig und bescheiden, gleichzeitig aber auch ein wenig einfältig und tollpatschig. Dieser krasse Gegensatz zur doch recht harten Philosophie macht die Mischung aus und „Fiat Homo“ zu einem echten Lesevergnügen. Derartige Sympathieträger kommen in den anderen zwei Teilen des Romans nicht vor – wobei ich das Hin & Her zwischen Abt Dom Paolo und dem Wissenschaftler Thon Taddeo Pfardentrott in „Fiat Lux“ durchaus goutiere. Der letzte Akt enthält im Gegensatz dazu kaum memorable Figuren, was wohl ein Mitgrund für die schwerere Lesbarkeit sein dürfte.

Alles in allem ist „Lobgesang auf Leibowitz“ ein Werk, das jeder, der sich für postapokalyptische Szenarien interessiert, gelesen haben sollte. Eine Einschränkung gibt es allerdings: Walter Miller beschreibt hier kein großes Bild möglicher Gesellschaftsformen in einer dystopischen Zukunft. Er konzentriert sich auf einen Aspekt (die Erhaltung des Wissens und den Versuch, die Wiederholung alter Fehler zu verhindern), auf den allerdings sehr detailliert. Wer damit umgehen kann und ein gesundes Interesse an philosophischen Erwägungen, die gelegentlich die Story überdecken, hat, kann zu untenstehender Wertung vielleicht einen oder zwei Punkte addieren. Mir persönlich ist das Buch gegen Ende hin zu unfokussiert, sodass der Gesamteindruck nicht über das gehobene Mittelmaß hinauskommt.

Gesamteindruck: 4/7


Autor: Walter M. Miller, Jr.
Originaltitel: A Canticle for Leibowitz.
Erstveröffentlichung: 1955-1957
Umfang: ca. 320 Seiten
Gelesene Sprache: Englisch
Gelesene Version: E-Book

BuchWelt: Schlaflied

Cilla & Rolf Börjlind


„Schlaflied“, der vierte Fall des Ermittlerduos Tom Stilton und Olivia Rönning, behandelt mit Organhandel und Flüchtlingskrise zwei höchst aktuelle Themen, die jedes für sich eine Schande für die ach-so-zivilisierte Menschheit sind. Dafür gibt’s von mir Szenenapplaus; zu Begeisterungsstürmen vermag mich der schwedische Krimi jedoch nicht hinzureißen.

Gesamteindruck: 2/7


Ein Schlaflied für den Leser.

„Schlaflied“ ist das erste Buch des schwedischen Ehepaars Cilla und Rolf Börjlind, das ich gelesen habe. Wer nun denkt, dass meine Probleme mit diesem Werk daher rühren – immerhin kenne ich die Vorgeschichte der Ermittler nicht – täuscht sich. Ich denke nicht, dass entsprechende Vorkenntnisse den fast 600 Seiten starken Roman zu einem Pageturner gemacht hätten.

Worum geht’s?
Stockholm: Tausende Asylsuchende kommen an, die Behörden sind mit der Situation hoffnungslos überfordert. Unter den Flüchtlingen befinden sich viele unbegleitete Jugendliche – wie Akin und Gowon aus Nigeria, die Hoffnung schöpfen, als sie von einem scheinbar hilfsbereiten Mann zu einer vorübergehenden Unterkunft gebracht werden. Gleichzeitig wird in Wäldern ein halb vergrabener, grausam zugerichteter Junge gefunden. Die Kriminalpolizei beginnt zu ermitteln und muss bald erkennen, wie weit sich auch im beschaulichen Schweden das organisierte Verbrechen schon ausgebreitet hat

Falls sich jemand fragt, wieso meine Börjlind-Premiere ausgerechnet der 4. Roman einer Krimi-Reihe ist: Ich gestehe, dass ich von den Autoren noch nie etwas gehört habe, entsprechend stand keines ihrer Bücher auf einer meiner „zu lesen“-Listen. Allerdings kann ich an keinem offenen Bücherschrank vorbeigehen, ohne etwas mitzunehmen – und in diesem Fall war es eben „Schlaflied“, dessen Inhaltsangabe mir gefallen hat. Mittlerweile weiß ich natürlich, dass Cilla und Rolf Börjlind vor allem als Drehbuch-Autoren für Krimi-Serien tätig sind, ein Umstand, der mir vorher ebenfalls völlig unbekannt war. Apropos Serien: Ich kann mir gut vorstellen, dass sich aus „Schlaflied“ – charismatische Schauspieler vorausgesetzt – ein spannender Fernseh-Abend machen ließe.

Kühle Charaktere und ein paar Unwahrscheinlichkeiten.

In Buchform hatte ich hingegen auf verschiedenen Ebenen meine Probleme mit „Schlaflied“. Eines davon sind die Figuren, die einfach nicht vor meinem geistigen Auge lebendig werden wollten – und mir auch charakterlich nicht sonderlich gefallen haben. Nun könnte man das darauf schieben, dass ich die Teile 1 bis 3 der Serie nicht kenne, daher auch nicht weiß, ob und wie die Hauptpersonen dort beschrieben sind. Beurteilen kann ich jedenfalls nur vorliegendes Werk, was einerseits nicht ganz gerecht ist, andererseits aber doch wieder, weil das Buch per se schon so geschrieben ist, dass es für sich allein gelesen werden kann. So oder so: Ich bin mit keinem Charakter wirklich warm geworden, zu kühl und distanziert sind sie beschrieben. Am meisten konnte ich übrigens mit dem rumänischen Gangsterboss anfangen – wenn der nur in diesem Buch vorkommt, wovon ich ausgehe, könnte das wiederum meinen Verdacht bestätigen, dass es mir tatsächlich an Vorkenntnissen mangelt.

Kein Problem ist es hingegen, der in „Schlaflied“ erzählten Handlung zu folgen – ganz unabhängig davon, ob man ein anderes Buch aus der Reihe kennt. Die Geschichte, die sich das Ehepaar Börjlind ausgedacht hat, ist im Endeffekt schnörkellos und man hat relativ früh Gewissheit, wohin sie sich entwickelt (schön fand ich übrigens, wie es am Ende die Auflösung des sehr rätselhaften Einstiegs gibt). Nun könnte man sagen, dass der Weg das Ziel ist, was oft genug auch stimmt. Im Falle von „Schlaflied“ sind die Wege bzw. Handlungsstränge auf den ersten Blick komplex, wenn sie zum Finale hin zusammenlaufen, stellt man jedoch fest, dass „umständlich“ die richtigere Beschreibung ist. Die Ermittler fahren und fliegen mal hierhin, mal dorthin, es passieren scheinbar bedeutende Dinge – und doch bleibt der schale Beigeschmack zurück, dass 400 Seiten locker genügt hätten, um „Schlaflied“ zu erzählen. Bezeichnend übrigens, dass ich in der Rückschau relativ lange überlegen musste, was es mit dem Titel des Romans auf sich hat, man kann sich also vorstellen, dass der entsprechende Teil der Handlung nicht gerade bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen hat. Einen Teil dieses Problems muss man aber der Übersetzung anlasten, denn das schwedische „Schlaf du kleines Weidenjunges“ ist der deutlich stärkere Titel.

Enttäuschend war für mich ferner, dass mir häufig nicht klar war, wie gewisse Ermittlungsergebnisse zustande gekommen sind – es ist, als würden den Beamten ihre Eingebungen zum Teil einfach so zufliegen. Das nimmt der Geschichte für mein Dafürhalten ein gerüttelt Maß an Glaubwürdigkeit. Dazu passt auch, dass manche Charaktere sehr merkwürdige und für mich kaum nachvollziehbare Entscheidungen treffen. Und: In „Schlaflied“ gibt es zumindest so viele Unwahrscheinlichkeiten, die für mein Dafürhalten nicht ausreichend erklärt werden, dass es mir negativ aufgefallen ist.

Fazit: Trotz grundsätzlich brauchbarer Geschichte ist „Schlaflied“ ein Buch, das man wohl nur Fans der Reihe um Tom Stilton und Olivia Rönning empfehlen kann. Ich denke nicht, dass ich ein weiteres Werk aus der Serie lesen werde, dazu war mir vorliegender Roman letzten Endes zu zäh und zu unspektakulär.

Gesamteindruck: 2/7


Autor: Cilla & Rolf Börjlind
Originaltitel: Sov du lilla videung.
Erstveröffentlichung: 2016
Umfang: ca. 570 Seiten
Gelesene Sprache: Deutsch
Gelesene Version: Taschenbuch

BuchWelt: Bad Fucking

Kurt Palm


Nein, in dieser Rezension geht es nicht um die Autobiografie eines Pornodarstellers – und auch nicht um die Bekenntnisse eines Callboys oder einer Prostituierten. Es geht ganz generell nicht um schlechte Erfahrungen bei der schönsten Nebensache der Welt, obwohl vorliegendes Buch die eine oder andere Andeutung in diese Richtung enthält. So kann man sich täuschen, wenn man nur den Titel liest.

Gesamteindruck: 4/7


Ein bisschen schräger Krimi.

So ganz kann ich die Verantwortlichen der Gemeinde Tarsdorf (Oberösterreich) nicht verstehen: Sie haben Ende 2020 beschlossen, das Örtchen Fucking in Fugging (im Gegensatz zum Roman kein Kurort, also ohne „Bad“) umzubenennen und diesen Beschluss mit 1. Jänner 2021 tatsächlich umgesetzt. Seither gibt es in Österreich zwei Orte mit Namen Fugging – und eine kultige Ortstafel weniger. Schade eigentlich, hier hätte sich doch mit einer findigen Marketing-Strategie ordentlich Geld verdienen lassen, oder? Ist nicht passiert, und durch die Umbenennung wird man wohl bald vergessen, dass der Titel dieses Buches nicht völlig frei erfunden ist.

Worum geht’s?
Im beschaulichen und von der Welt und der österreichischen Politik nach einem Erdrutsch, der die Zufahrtsstraße verlegt hat, vergessenen Bad Fucking ist es mit der Ruhe vorbei: Ein Einsiedler wird tot in seiner Höhle gefunden, eine Horde Cheerleader steigt im einzigen Hotel der Gegend ab, ein Finanzskandal droht aufgedeckt zu werden – und der Dorfgendarm bereitet alles für die Rückkehr der Aale aus ihrem Laichgebiet in der Sargassosee vor

„Kein Alpenkrimi“ lautet der Claim, der unter dem Buchtitel am Umschlag von „Bad Fucking“ zu finden ist. Stimmt, irgendwie, obwohl das Buch durchaus Ansätze eines österreichischen Krimis hat: Ein Mord, eine Entführung, Korruption und Stalking – über all das lesen wir in diesem Buch, das 2013 von Kult-Regisseur Harald Sicheritz verfilmt wurde. Im ersten Moment klingt das fast nach business as usual, ist es zum Teil auch und dabei durchaus spannend geschrieben. Doch dieser Eindruck währt nur kurz, relativ schnell driftet „Bad Fucking“ ins Überzeichnete ab und wird im Laufe der Handlung immer grotesker.

Wirklich nur erfunden?

Man kann sich schon die Frage stellen kann, ob „Bad Fucking“ tatsächlich so überzeichnet ist wie angedeutet. Ist es z. B. so weit hergeholt, dass der Bürgermeister die Einnahmen aus dem Tourismus in vermeintlich vielversprechenden Hedgefonds verzockt? Ist es komplett unwahrscheinlich, dass der hiesige Zahnarzt ein Verhältnis mit seiner Putzfrau hat und anschließend von ihr erpresst wird? Zumindest gibt einem die regionale und überregionale Politik nicht unbedingt das Gefühl, dass das, was in Bad Fucking passiert, kein reales Vorbild hat. Überzeichnet? Ja, sicher. Ganz und gar erfunden? Wer weiß…

Unabhängig vom Wahrheitsgehalt ist „Bad Fucking“ jedenfalls angenehm und schnell zu lesen. Es gibt einiges an Lokalkolorit, es gibt durchaus schillernde, lebendige Charaktere. Die Komik kommt auch nicht zu kurz, wirkt allerdings ab und an etwas angestrengt. Dass man all das auch als durchaus berechtigte Kritik am vermeintlich idyllischen Landleben, aber auch an der österreichischen Politik lesen kann, liegt auf der Hand.

Überhastet wirkendes Finale.

Also alles gut? Mitnichten, daher auch nur 4 Punkte. Einerseits ist das Buch insgesamt etwas zerfahren. Es werden viele Themen angeschnitten – und das auf durchaus lesenswerte und lustvolle Weise. Dabei verzettelt sich der Autor meiner Meinung nach aber ein bisschen, sodass man am Ende den Eindruck hat, zwar viele gute Ansätze gelesen zu haben, von denen aber nur wenige gut ausgearbeitet wurden. Andererseits war ich mit dem Finale nicht gerade glücklich. Ich verstehe zwar, dass man ein solches Buch mit einem Knall enden lassen möchte – und auch, dass ein so grotesker Roman einen ebensolchen Schluss braucht. Dennoch ist die letzte Seite für mich deutlich zu früh gekommen, ich hätte gerne noch etwas mehr über die Ereignisse im ehemaligen Kurort gelesen.

Alles in allem sind das 4 von 7 Punkten – wer grundsätzlich etwas mit österreichischer Literatur anfangen kann, kann ruhig einen Versuch wagen. Schlecht ist „Bad Fucking“ keineswegs, es wirkt nur – und das nicht erst am Schluss – ein bisschen überhastet und eine Spur zu wenig ausgearbeitet. Zumindest für meinen Geschmack.

Gesamteindruck: 4/7


Autor: Kurt Palm
Originaltitel: Bad Fucking. Kein Alpenkrimi.
Erstveröffentlichung: 2010
Umfang: ca. 280 Seiten
Gelesene Sprache: Deutsch
Gelesene Version: Taschenbuch

BuchWelt: Spuk in Hill House

Shirley Jackson


Abseits von Stephen King und einer gelegentlichen Rückkehr zu H. P. Lovecraft habe ich in letzter Zeit wenig unheimliche Literatur genossen – höchste Zeit also, sich mal wieder ordentlich zu gruseln. Die Suche nach einem geeigneten Schocker hat mich diesmal ins Internet geführt, wo man einen nachgerade unerschöpflichen Fundus an Literatur-Tipps jeglicher Couleur findet. Auf Listen mit Titeln wie „The Most Terrifying Books“ o. ä. tauchen immer recht ähnliche Werke auf – darunter auch vorliegendes Buch der amerikanischen Autorin Shirley Jackson. Weil mir die gleichnamige Netflix-Serie gut gefallen hat, nahm ich allen Mut zusammen um Hill House erneut zu erkunden.

Gesamteindruck: 3/7


Das Blut gefriert nur manchmal.

„Spuk in Hill House“ war zwar kein klassischer Spontankauf, wie aus der Einleitung deutlich wird, ein paar Überraschungen hatte das Buch aber dennoch gleich zu Anfang für mich parat. Bevor ich die erste Seite aufgeschlagen (oder wie man das bei einem eBook nennt) habe, habe ich zum Beispiel nicht bewusst mitbekommen, dass der Roman von einer Frau geschrieben worden ist. Eigentlich wäre das keine Erwähnung wert (Wieso sollte es nicht auch von einer Frau Horrorliteratur geben?), würde das Buch nicht schon 1959 veröffentlicht worden sein. Damals war das meines Erachtens noch nicht so selbstverständlich, wie es heute zumindest sein sollte. Und: Nicht nur die genannte Netflix-Serie basiert auf „Spuk in Hill House“, es gibt mit „Bis das Blut gefriert“ (1963) und „Das Geisterschloss“ (1999) sogar zwei mehr oder weniger erfolgreiche Filme. Das alles zeigt, dass an der häufigen Erwähnung auf Empfehlungslisten schon was dran sein dürfte, zumindest scheint für eine erhebliche Anzahl an Lesern, aber auch für diverse Filme- und Serienmacher eine gewisse Faszination von dem Stoff auszugehen.

Worum geht’s?
Der Anthropologe John Montague mietet für einige Wochen ein Anwesen, in dem es nicht mit rechten Dingen zugehen soll. Beim Aufspüren und Nachweisen übernatürlicher Aktivitäten sollen ihm drei Freiwillige helfen, die er aufgrund ihrer Sensitivität für derartige Phänomene ausgewählt hat – und die unterschiedlicher nicht sein können. Und tatsächlich merken die Hausgenossen bald, dass der schlechte Ruf, den Hill House in der ganzen Gegend genießt, nicht von ungefähr kommt

Ich muss ehrlich sagen, dass mich dieses Buch eher ratlos als verängstigt zurückgelassen hat. Die von mir gelesene, deutsche eBook-Ausgabe ist 215 Seiten eher dünn, dennoch habe ich erstaunlich lang für die Lektüre gebraucht. Das liegt meines Erachtens unter anderem am schwankenden Erzähltempo: Passiert im Haus nicht viel, ergehen sich die Figuren teilweise seitenlang in Erinnerungen und tauschen Erfahrungen aus ihrem Leben aus. Wenn es hingegen unheimlich wird, hat man den Eindruck, dass die Ereignisse im Zeitraffer ablaufen; ein bisschen erinnert das dann an das reale Gefühl von atemloser Panik. Ich weiß nicht, wie ich es besser beschreiben kann, aber wenn im Hill House Geister (oder was man dafür halten könnte) auftauchen, ist man kaum in der Lage, das Buch aus der Hand zu legen. Auch aus Angst, was man sehen oder hören könnte, wenn man sich nicht auf die Seiten konzentriert, die vor einem liegen. Klingt gut und furchteinflößend? Ist es auch, insofern kann ich sogar verstehen, wieso das Buch als besonders unheimlich gilt.

Zu wenig Horror.

Leider gibt es aber ein Problem: Im schmalen Umfang von „Spuk in Hill House“ sind nur zwei Szenen enthalten, die dem Leser tatsächlich auf diese Art und Weise einen tüchtigen, fast körperlich spürbaren Schrecken einjagen. Der Rest ist Psychologie und Philosophie, was gar nicht so schlecht wäre, aber einfach nicht dem entspricht, was ich mir hier erwartet und erhofft hätte. Das ist sehr schade – denn eigentlich hätte die Autorin eine perfekt aufgebaute, düstere Atmosphäre aufgebaut zur Verfügung gehabt. Das was sie daraus macht ist in wenigen Momenten schlichtweg genial, lässt im weit größeren Teil die unheimliche Stimmung jedoch wieder verpuffen.

Es hätte eventuell dennoch für eine höhere Wertung reichen können – hätte Shirley Jackson nicht im letzten Drittel (oder ist es schon ab der Hälfte?) eine zusätzliche Person, die Frau von Dr. Montague, eingeführt. Ich bin mir nicht sicher, ob das als humoristische Auflockerung der dichten und bedrückenden Atmosphäre gedacht war – ich hätte die schrille und exzentrische Figur definitiv nicht gebraucht. Ich würde sogar sagen, dass dadurch ein Gutteil der vorher sorgsam aufgebauten Stimmung unwiederbringlich verloren geht. Eher als Randnotiz sei noch notiert, dass die Dialoge zum Teil höchst merkwürdig wirken. Ich habe auch nicht den Eindruck, dass das am Alter des Buches liegt – es ist aus meiner Sicht einfach so, dass weder die individuelle Sprache der Personen noch wie sie miteinander reden, sonderlich natürlich wirken. Woran das liegt, kann ich nicht genau festmachen, bei mir hat dieser Faktor jedenfalls ab und an für unfreiwilliges Schmunzeln gesorgt.

Alles in allem ist „Spuk in Hill House“ damit ein mittelmäßiges Buch. Exzellente (und das meine ich wirklich so!), atmosphärisch extrem dichte Schockmomente sind vorhanden, kommen aber viel zu selten vor. In Kombination mit der spät eingeführten und viel zu aufdringlichen Ehefrau des Anthropologen kann das leider nicht für eine bessere Wertung reichen. Sehr schade, ich wollte dieses Buch wirklich mögen.

Gesamteindruck: 3/7


Autor: Shirley Jackson
Originaltitel: The Haunting of Hill House.
Erstveröffentlichung: 1959
Umfang: ca. 215 Seiten
Gelesene Sprache: Englisch
Gelesene Version: eBook

BuchWelt: The Martian

Andy Weir


„The Martian“, zu deutsch „Der Marsianer“, ist eine moderne Robinsonade. Dieses literarische Motiv scheint nie aus der Mode zu kommen – und weil die Prämisse sattsam bekannt ist, geht es in der Regel vorwiegend um die Qualität der literarischen Umsetzung. So auch bei diesem Roman des US-Autors, Software-Entwicklers und Hobby-Astrophysikers Andy Weir, der seinen Robinson Crusoe Mark Whatney nennt und auf dem Mars stranden lässt.

Gesamteindruck: 5/7


Robinson Whatney.

Wie vermutlich viele Andere auch, habe ich zunächst den gleichnamigen Film von Kult-Regisseur Ridley Scott aus dem Jahre 2015 (in der Hauptrolle: Matt Damon) gesehen. Der hat mir sehr gut gefallen, daher habe ich nicht lange gezögert, als ich unlängst zufällig über die englischsprachige Ausgabe des Romans von Andy Weir gestolpert bin…

Worum geht’s?
Der Mars ist gefährliches Terrain, wie Astronaut Mark Whatney schmerzhaft erfahren muss: Durch einen Sandsturm ist seine Crew gezwungen, die Mission auf dem Roten Planeten nach nur sechs Tagen abzubrechen und zur Erde zurückzukehren – ohne Whatney, der von der Gruppe getrennt und für tot gehalten wird. Allerdings hat der findige Ingenieur/Botaniker überlebt und unternimmt alles, damit das auch so bleibt

„The Martian“ ist der Form und dem Inhalt nach zwar eine ganz traditionelle Robinsonade, mit dem Kampf gegen die Elemente als das alles bestimmende Element. Allerdings ist die Lage, in der sich Mark Whatney befindet, noch verzwickter als die des originalen Robinson: Er ist das einzige Lebewesen (Crusoe hatte wenigstens Tiere) auf einer einsamen Insel, auf der es nicht einmal Luft zum Atmen gibt. Das ist im Wesentlichen aber der einzige Unterschied, denn beide Figuren eint ihr unbedingter Überlebenswille und ihr Improvisationstalent. Und noch eines haben die beiden Bücher, die aus so unterschiedlichen Epochen stammen, gemeinsam: Sie lesen sich fantastisch und sind ähnlich flott geschrieben.

Ein lässiger Held.

In punkto Unterhaltungswert kann man Andy Weir wahrlich wenig vorwerfen: „Der Marsianer“ hat praktisch keine Längen, ist immer spannend und – auch nicht zu unterschätzen – sehr humorvoll geschrieben. Das Buch ist außerdem ein echter Pageturner, was geschickt platzierten Cliffhangern zu verdanken ist. Zum insgesamt locker-flockigen Lesegefühl trägt wohl auch bei, dass das eigentlich bedrückende Gefühl der Isolation, das die Robinsonade ja eigentlich ausmacht, immer wieder durchbrochen wird: Der Großteil des Buches besteht aus Tagebuch-Einträgen der Hauptfigur, die natürlich in der Ich-Form verfasst sind. Demgegenüber wird zwischendurch erzählt, was auf der fernen Erde passiert und auch der eine oder andere Abstecher zu Whatneys Kameraden, die sich auf dem Rückweg dorthin befinden, ist dabei.

Das würde eigentlich überhaupt nicht stören, würde es nicht gleichzeitig offenlegen, dass sowohl die Crew in ihrem Raumschiff als auch das NASA-Personal charakterlich tiefgründiger wirkt, als der einsame Held. Das hat wohl damit zu tun, dass wir von Mark Whatney nur das hören, was er seinem Tagebuch anvertraut, während der Rest der Charaktere von einem allwissenden Erzähler beschrieben wird. Whatney liegt anscheinend nicht viel daran, in seinen Aufzeichnungen emotional rüberzukommen, was zwar logisch ist, im Roman aber recht befremdlich wirkt. Denn Andy Weir lässt Whatney sehr locker und humorvoll mit einer praktisch ausweglosen Situation umgehen. Im Gegensatz zu Robinson Crusoe scheint er kaum unter seiner Isolation zu leiden (zumindest vertraut er es nicht seinem Tagebuch an, wenn es wirklich so ist); gibt es Probleme, schiebt er sie mit einem lockeren Spruch zur Seite. Ich denke, dass aus dieser lässigen Art auch die Leichtigkeit der Lektüre entspringt – an sich kein Fehler, aber ich möchte dennoch festhalten, dass Mark Whatney dadurch nicht ganz so realistisch wirkt, was in Kontrast zur detailliert und ernsthaft beschriebenen, technischen Komponente des Buches steht.

Realismus vs. Super-Intellekt.

Woran man sich außerdem nicht stören darf, wenn man dieses Werk genießen will: Die Technik, die auf dem Mars eingesetzt wird, ist an und für sich wohl nicht weit von dem entfernt, was wir schon jetzt haben. Das scheint tatsächlich alles Hand und Fuß zu haben und dem Autor gebührt großes Lob für die Recherche – und vor allem auch dafür, wie komplizierte Vorgänge dem Laien nähergebracht werden. Ich glaube gelesen zu haben, dass „Der Marsianer“ irgendwo auch als Sachbuch ausgezeichnet wurde – dem kann ich nur zustimmen, das hier ist wirklich ein lehrreiches Werk. Gleichzeitig hat man – ganz im Gegensatz zum originalen Robinson Crusoe – bei Mark Whatney nicht das Gefühl, man könnte eine solche Lage selbst meistern. Whatney ist eine Art Universal-Genie und kommt auf die tollsten Ideen. Schon klar, nur die Besten werden auf den Mars geschickt, aber das, was uns Andy Weir hier auftischt, liest sich – zumindest für mich als Laien – doch sehr übertrieben. Dazu trägt auch bei, dass er, wenn man so will, hinter jeder Ecke eine neue Falle (oder technische Fehlfunktion) für Whatney lauern lässt. Bis das Buch vorbei ist, ist man tatsächlich ein wenig übersättigt, was vermeintlich ausweglose Situationen, Un- und Zwischenfälle betrifft.

Im Endeffekt spielt das alles aber keine große Rolle, denn „Der Marsianer“ hat mich ganz ausgezeichnet unterhalten. Das hier ist verschriftlichtes Popcorn-Kino im besten Sinn: Actionreich, humorvoll und lässig. Gleichzeitig, und das ist der eigentliche Clou, bietet das Buch auf technischer Ebene sehr viel Tiefgang. Eine interessante Kombination in der Tradition von z. B. Michael Crichton, an der ich persönlich wenig auszusetzen finde. Etwas mehr Charakter hätte man Mark Whatney noch spendieren können, dann hätte es locker mit einer noch höheren Wertung geklappt. Aber auch so kann ich dieses Buch jedem, der Interesse an realistischer Science Fiction hat, ohne zu zögern empfehlen.

Gesamteindruck: 5/7


Autor: Andy Weir
Originaltitel: The Martian.
Erstveröffentlichung: 2011
Umfang: ca. 430 Seiten
Gelesene Sprache: Englisch
Gelesene Version: Taschenbuch

BuchWelt: Graue Nächte

Arnaldur Indriðason


Ich weiß nicht genau, was es mit skandinavischen Krimis auf sich hat. Sie werden mir laufend im Netz, aber auch im realen Leben empfohlen, sind Bestseller – und ich habe kaum einen davon gelesen. Wenn ich es recht bedenke, ist „Graue Nächte“ überhaupt erst mein zweiter Versuch (nach der „Millenium“-Trilogie von Stieg Larsson).

Gesamteindruck: 3/7


Dunkle Zeiten.

Falls jemand wissen möchte, warum ich ausgerechnet dieses Buch für meine zweite Erfahrung mit einem skandinavischen Krimi ausgewählt habe: Es lag so ‚rum. Also nicht bei mir, sondern auf einem Tisch vor einem Haus hier in Wien. „Zur freien Entnahme“, wie es so schön heißt. Und als eingefleischter Skandinavien- und Island-Fan dachte ich mir: „Warum nicht?“ und habe zugegriffen. Dass es sich dabei um den zweiten Teil einer Reihe um die Ermittler Flóvent und Thorsson handelt, wusste ich nicht – war aber kein Problem, das Buch ist auch ohne Vorkenntnisse problemlos lesbar.

Worum geht’s?
1943 ist Island von den Amerikanern besetzt. Die Stimmung zwischen Einheimischen und Soldaten ist häufig angespannt. Als in der Nähe einer halb-legalen Kneipe mitten in Reykjavík ein junger Mann brutal ermordet wird, übernehmen Kommissar Flóvent von der isländischen Polizei und der Kanadier Thorson von der Militärpolizei die Ermittlungen. Bald stellt sich die Frage, ob dieser Fall – und ein zweiter, an dem Flóvent gerade arbeitet – mit dem Krieg, der in Island so fern scheint, in Verbindung stehen

Mir hat „Graue Nächte“ ganz gut gefallen, vom Hocker gerissen hat mich das Buch allerdings nicht. Ich fange mal mit den positiven Aspekten an: Arnaldur Indriðason hat mit dem Island der 1940er Jahren einen Schauplatz gewählt, den man als Mitteleuropäer so gar nicht auf dem Schirm hat. Die Insel im Nordatlantik ist heutzutage zwar ein beliebtes Ziel für Touristen aus aller Welt, ihre jüngere Geschichte ist in unseren Breiten hingegen weniger bekannt. So gesehen sind Ort und Zeit der Handlung nicht nur ungewöhnlich, sondern machen den Leser nebenbei mit einigen interessanten Aspekten der Zeitgeschichte vertraut, darunter wie sich die Bevölkerung mit den ausländischen Soldaten arrangiert (oder auch nicht) und nationalsozialistische Tendenzen in Island.

„Graue Nächte“ ist letztlich aber kein Geschichtsbuch, sondern ein Krimi und muss auch als solcher funktionieren – vor allem, weil die Historie Islands im 2. Weltkrieg zwar schön angerissen, aber nicht allzu sehr vertieft wird. Muss natürlich auch nicht sein, ich wollte es nur angemerkt haben. Spannend ist jedenfalls, dass die Handlung zumindest teilweise nicht linear erzählt wird. Darauf kommt man erst im Laufe der Lektüre – und es ist tatsächlich einigermaßen befriedigend, wenn die Puzzlesteine mit der Zeit ein immer klareres Bild über die Abläufe ergeben. Es ist außerdem durchaus kurzweilig, zu lesen, wie die Ermittler an den Fall des so brutal ums Leben gekommenen jungen Mannes herangehen und dabei eher düstere Seiten der nordischen Beschaulichkeit aufdecken. Und auch der zweite Fall, der eher ein Nebenstrang der Handlung ist, ist gefällig inszeniert.

Kleinere Längen und wenig Charakterzeichnung.

All das wäre gute Punkte wert, ganz überzeugen konnte mich der Autor aber dennoch nicht. Ein Grund dafür sind Längen, die sich trotz des relativ geringen Umfangs immer mal wieder einschleichen. Und: Die Handlungsstränge sind per se schon spannend, allerdings wirken sie gegen Ende hin nicht so richtig ausgereift und werden auch nicht ganz befriedigend zusammengeführt bzw. abgeschlossen. Und dann gibt es da noch die eine oder andere Unwahrscheinlichkeit, die zumindest mir nicht so richtig in den Kopf wollte – oder war es im 2. Weltkrieg normal, dass Unteroffiziere einen Vertreter der Militärpolizei dermaßen respektlos behandeln und der sich das gefallen lässt? Wir sind ja – zum Glück – weit von solch dramatischen Zeiten entfernt, aber wenn ich an meine Militärzeit zurückdenke, kommt es mir so vor, als ob sogar Offiziere ein mulmiges Gefühl gehabt hätten, wenn Vertreter der Militärpolizei aufgetaucht sind…

Abgesehen davon: Ich habe oben erwähnt, dass das Buch zwar Teil 2 einer Reihe ist, aber dennoch auch für sich gelesen werden kann. Das trifft zumindest auf die Kriminalhandlung zu. Nicht so sicher bin ich mir allerdings, was die Charaktere betrifft. Die zwei Ermittler sind zwar durchaus sympathisch, andererseits wirken sie nicht gerade tiefgründig. Ich kann natürlich nicht sagen, ob das ein generelles Versäumnis des Autors ist – oder ob sie in Band 1 der Reihe („Der Reisende“) genauer charakterisiert werden und das, was man in „Graue Nächte“ zu lesen bekommt, eine kleine, feine Fortentwicklung ist. Steht das Buch für sich, ist es jedenfalls sehr handlungsbezogen und baut eine im Allgemeinen eher düstere, aber gute Atmosphäre auf, mit der die Hauptfiguren nicht mithalten können.

Alles in allem ist „Graue Nächte“ für mich damit ein durchschnittliches Buch ohne große Stärken und mit ein paar kleineren Schwächen. Der historische Aspekt ist gut gelungen, wenn auch nicht sonderlich tiefschürfend, der Krimi wäre gut, hat aber mit Längen und einer nicht ganz zufriedenstellenden Auflösung zu kämpfen.

Gesamteindruck: 3/7


Autor: Arnaldur Indriðason
Originaltitel: Petsamo.
Erstveröffentlichung: 2016
Umfang: ca. 400 Seiten
Gelesene Sprache: Deutsch
Gelesene Version: Taschenbuch

BuchWelt: Japantown

Barry Lancet


Dass es in vielen amerikanischen Städten chinesische Viertel, genannt Chinatown, gibt, gehört zur Allgemeinbildung. Weniger bekannt ist hingegen – zumindest hierzulande – dass es u. a. in San Francisco und Los Angeles auch Japantowns gibt. Ich glaube, mir ist der Begriff tatsächlich erstmals untergekommen, als ich Ende 2020 vorliegendes Buch gelesen habe. Übrigens einmal mehr ein Zufallsfund in einem offenen Bücherschrank hier in Wien.

Gesamteindruck: 4/7


Die düstere Seite Japans.

Der Ferne Osten ist in meiner „Karriere“ als Bücherwurm bisher ein weißer Fleck gewesen, sieht von Kenzaburô Ôe ab, von dem ich das eine oder andere Werk gelesen habe. „Japantown“ ist im Gegensatz dazu allerdings Werk eines asiatischen Autors, sondern wurde von einem US-Amerikaner geschrieben. Barry Lancet lebt jedoch seit Jahrzehnten in Japan und hat sich im Laufe der Zeit vor allem als profunder Kenner hiesiger Kunst, Kultur und Bräuche einen Namen gemacht. Mit „Japantown“ legte er 2013 seinen ersten Roman vor.

Inhalt in Kurzfassung
Jim Brodie ist Antiquitätenhändler in San Francisco und gleichzeitig Teilhaber einer Detektei in Tokio. Als anerkannter Experte für japanische Kunst und Kultur wird er von der Polizei in San Francisco gelegentlich als Berater engagiert – so auch in einem Mordfall im Stadtviertel Japantown. Seine Aufgabe: Herausfinden, was es mit dem merkwürdigen japanischen Schriftzeichen auf sich hat, das bei den Leichen gefunden wurde. Es dauert nicht lange, bis Brodie selbst ins Visier einer geheimnisvollen Organisation gerät…

Vom Lesegefühl her ist „Japantown“ ein typischer US-Thriller: Von geradliniger Brutalität, schnell zu lesen und eher simpel gehalten – und durchaus spannend. Nimmt man nur diese Aspekte, würde ich das Buch aufgrund gewisser schriftstellerischer Schwächen eher im unteren Durchschnitt verorten (wieso das so ist, erkläre ich etwas weiter unten). Was „Japantown“ dann aber doch aus der Masse hervorhebt, ist das Setting: Barry Lancet beschäftigt sich sehr stark mit den Eigenheiten der japanischen Kultur, die den meisten Europäern und Amerikanern nach wie vor ein Rätsel ist und wohl auch immer sein wird. Der Autor schafft es dabei, einige dunklere Aspekte seiner Wahlheimat hervorzuheben und dem Außenstehenden verständlich zu machen. Freilich nicht so genuin, wie es ein Japaner könnte; aber vielleicht ist es gerade das, was an „Japantown“ fasziniert: Der gebürtige Amerikaner, der seit Ewigkeiten in Japan lebt, steht sozusagen zwischen den Kulturen und hat darum eine ganze eigene Sichtweise auf die Dinge.

Eine weitere Besonderheit an „Japantown“ ist, dass Autor Barry Lancet seiner Hauptfigur Jim Brodie offenbar stark autobiografische Züge verpasst hat. Zumindest teilen die beiden ihren Status als Wanderer zwischen zwei Welten. Und wie sein Schöpfer hat sich auch Jim Brodie breites Wissen über alle möglichen Bereiche der fernöstlichen Kultur angeeignet. Inwieweit sich die beiden von der Art her ähneln, wage ich nicht zu beurteilen, für mich sieht es aber fast so aus, als hätte Lancet mit seinem heldenhaften Multitalent Brodie eine idealisierte Version (vielleicht sogar sowas wie eine Kindheitsvorstellung) seiner selbst erschaffen.

Brodie nimmt es mit allen auf.

Und damit kommen wir auch schon zum größten Kritikpunkt an „Japantown“: Jim Brodie ist ungefähr so, wie man als Kind oder Jugendlicher selbst gern gewesen wäre, egal wie unrealistisch das sein mag. Ein Hansdampf in allen Gassen, unkaputtbarer Experte in verschiedenen Kampfsportarten, gleichzeitig aber feinsinnig, intellektuell und höchst bewandert in einer uns völlig fremden Kultur. Der Autor nimmt seinem Helden zwar nicht jegliche Menschlichkeit und lässt dem Leser durchaus die eine oder andere Identifikationsmöglichkeit, letztlich wird es im Laufe der Lektüre aber immer unglaubwürdiger, wie sich der Antiquitätenhändler/Detektiv aus scheinbar ausweglosen Situationen befreien kann. Von seiner messerscharfen Kombinationsgabe ganz abgesehen. Auch all das scheint mir das typisch-amerikanische Heldenklischee zu sein. Freilich freut man sich beim Lesen, dass der Gute dermaßen erfolgreich ist, andererseits wäre es vielleicht noch wirkungsvoller gewesen, wenn Jim Brodie auch die eine oder andere Schwäche zeigen würde.

Ein bisschen steht sich der Autor auch selbst im Weg: Er schafft mit den Soga, einer Geheimgesellschaft, die außerhalb der Gesetze operiert, einen übermächtigen (und durchaus interessanten) Gegenspieler. Die Antagonisten sind fast genauso unfehlbar wie der Held, verfügen über praktisch unbegrenzte finanzielle Mittel, sind in der Überzahl – und existieren seit Jahrhunderten, ohne aufgedeckt worden zu sein. Und was macht Lancet? Er lässt diese höchst verschwiegene Truppe, deren Mitglieder auf eine Art und Weise ausgebildet werden, die die US-Marines vor Neid erblassen lassen würde, durch ein paar japanische Detektive und einen amerikanischen Antiquitätenhändler vorführen… das erschien mir im Nachgang, so spannend das Buch über weite Strecken auch war, arg unglaubwürdig.

Wozu der Perspektivenwechsel?

Einen Punkt muss ich, bevor ich zum Schluss komme, noch erwähnen: Mehrmals im Buch gibt es einen Wechsel aus der Ich-Perspektive hin zu einem allwissenden Erzähler. Das empfand ich als sehr störend, weil es einerseits den Lesefluss immer ein wenig unterbrochen, andererseits die Identifikation erschwert hat. Zumindest ging es mir so – anfangs ist man als Leser mittendrin, man ist Jim Brodie, der Stück für Stück ermittelt, was in Japantown eigentlich passiert ist. Das ist höchst spannend – wird aber zwischendurch immer wieder aufgebrochen, weil man beobachten „darf“, was die Bösewichte so treiben und besprechen. Vielleicht ist das ein Stilmittel, das ich nicht verstehe, vielleicht ist es auch der Unerfahrenheit geschuldet, die Barry Lancet bei seinem Roman-Debüt hatte – ich weiß es nicht, kann nur sagen, dass es mir nicht gefallen hat.

Abgesehen davon und vom oben genannten Ein-Mann-Armee-Klischee, das man ja aus vielen Thrillern so oder so ähnlich kennt, kann ich die Lektüre von „Japantown“ aber empfehlen. Für mich war es höchst aufschlussreich und interessant, einmal in Thriller-Form an das Land der aufgehenden Sonne herangeführt zu werden. Schnell gelesen ist das Buch ohnehin, sodass ich trotz teils relativ grober Schwächen 4 von 7 Punkten vergebe.

Gesamteindruck: 4/7


Autor: Barry Lancet
Originaltitel: Japantown.
Erstveröffentlichung: 2013
Umfang: ca. 590 Seiten
Gelesene Sprache: Deutsch
Gelesene Version: Taschenbuch