Gudrun Pausewang
Für mich, Jahrgang 1979, ist das Wort „Tschernobyl“ einer der prägendsten Begriffe der Kindheit. Der Tag, an dem wir von der Schule heimgeschickt wurden, direkt ins Haus mussten und uns von der Sandkiste fernzuhalten hatten (ja, ausgerechnet das ist auch eine sehr lebhafte Erinnerung!), hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Und auch heute, ziemlich genau 35 Jahre später, ist „Tschernobyl“ immer noch mehr als ein Ortsname; es ist ein Wort, das seinen düsteren Klang nie verloren hat. Zumindest nicht für jene, die damals dabei waren. Damals, als Europa und die Welt den Atem anhielten.
Gesamteindruck: 6/7
Ein Mahnmal.
Die deutsche Autorin Gudrun Pausewang (+ 2020) hat den Jugendroman „Die Wolke“ 1987 verfasst. Zu jener Zeit stand die Welt noch voll und ganz unter dem Eindruck der Katastrophe von Tschernobyl (26. April 1986). Dennoch ist das Buch nicht ihr erster Beitrag zur damals allgegenwärtigen atomaren Bedrohung: Bereits 1983 skizzierte sie in „Die letzten Kinder von Schewenborn oder …sieht so unsere Zukunft aus?“ einen Atomkrieg in Deutschland. Hieran – und an vielen anderen zeitgenössischen Beiträgen unterschiedlicher Kunstrichtungen – ist abzulesen, wie unheimlich die Welt mitten im Kalten Krieg gewirkt haben muss (und wohl auch war). Und dieser Schrecken ist bis heute nicht gewichen, jedenfalls nicht für die, die sich erinnern können – oder wollen.
Worum geht’s?
Deutschland, Mitte der 1980er Jahre: Nach einem Super-GAU im Kernkraftwerk Grafenrheinfeld wird Katastrophenalarm ausgelöst. Die völlig unvorbereitete Bevölkerung bleibt in den ersten Stunden nach dem Zwischenfall sich selbst überlassen – was zu Massenpanik und tausenden Toten führt. Mitten im Chaos versuchen die Jugendliche Janna-Berta und ihr kleiner Bruder Uli der radioaktiven Wolke zu entkommen, die der Wind in ihre Richtung treibt. Ob die Eltern noch leben oder schon tot sind, wissen sie nicht – und auf der Flucht zeigt sich, dass plötzlich jede:r sich selbst der/die Nächste ist…
Ich frage mich ja, ob das Wort Tschernobyl für die Jugend von heute noch jene Bedeutung hat wie für meine Generation – oder ob das Ereignis mittlerweile einfach zu weit weg ist, um überhaupt angemessen vermittelbar zu sein. Klar, seither gab es mit Fukushima (11. März 2011, 2012 übrigens im Roman „Noch lange danach“ von Gudrun Pausewang thematisiert) eine zwar nicht ganz so große, aber immer noch schreckliche Katastrophe – die ereignete sich aber am anderen Ende der Welt, wodurch ihr die Unmittelbarkeit von Tschernobyl fehlt. Bei mir hat die Kernschmelze im fernen Japan jedenfalls keinen dermaßen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, wie es noch 1986 der Fall gewesen war, als halb Europa die Schattenseiten der Kernenergie am eigenen Leib erfahren musste (und dabei war das „nur“ eine Art Streifschuss, wenn man so will).
Eine eindringliche Schilderung.
In „Die Wolke“ beschreibt Gudrun Pausewang sehr eindringlich, was passieren könnte, wenn ein ähnlicher Unfall im Herzen unseres dicht besiedelten Kontinents stattfinden würde. Auf technische Einzelheiten verzichtet sie dabei, viel mehr als den Ort des Super-GAUs und dass die Katastrophe als deutlich schlimmer als Tschernobyl eingestuft wird (entsprechend hoch ist die Anzahl der Todesopfer), erfährt man im Endeffekt nicht über das Ereignis selbst. Diese Herangehensweise entbindet die Autorin letztlich davon, sich in wissenschaftlichen Details zu verstricken. Nun könnte man Pausewang natürlich vorwerfen, dass die Geschichte, die sie erzählt, dadurch übertrieben, ja fast schon wie Panikmache, wirkt. Wer das denkt, sollte sich allerdings vergegenwärtigen, dass „Die Wolke“ kurze Zeit nach einem Unfall geschrieben wurde, der passiert war, obwohl alle Welt davon ausgegangen war, dass Kernenergie absolut sicher sei. Bereits im Jahr danach drohte die Katastrophe in Vergessenheit zu geraten und verdrängt zu werden – dass sich dieser Trend immer mehr verstärken würde, hat Pausewang vorhergesehen und gerade deshalb so drastische Worte für ihren Roman gewählt. Zu Recht, wie uns Fukushima gezeigt hat: Das Undenkbare ist tatsächlich wieder passiert und kann jederzeit erneut geschehen (Ironie des Schicksals, dass ich diese Zeilen im November 2021 schreibe, kurz nachdem Frankreich angekündigt hat, künftig wieder verstärkt auf Kernenergie zu setzen).
Bedrückende Aussichten.
„Die Wolke“ ist meines Erachtens auf drei Ebenen bedrückend und gerade deshalb eine sehr wirkungsvolle Warnung. Erstens scheut sich die Autorin nicht, in einem Buch, dass sich vor allem an Jugendliche richten soll, Tod und Verderben ausgesprochen auf fast beiläufige Art zu schildern. Das ist dem Thema durchaus angemessen, ich hätte es aber in einem Jugendbuch nicht so brutal erwartet. Die zweite Ebene betrifft die räumliche Nähe des Geschehens: Ich bin zwar Österreicher, dennoch empfinde ich die Orte, die in „Die Wolke“ vorkommen, als unmittelbare Nachbarschaft. Das jeder dieser Orte real existiert, macht das Buch meines Erachtens besonders unheimlich: Die Familie der Protagonistin wohnt in Schlitz (in der Nähe von Fulda, Gudrun Pausewang lebte bis 2016 mit Unterbrechungen selbst dort), die Katastrophe spielt sich im Kernkraftwerk Grafenrheinfeld, ab (dessen Außerbetriebnahme im Jahr 2015 die Autorin übrigens noch miterleben durfte), es kommen Orte wie Schweinfurt, Wiesbaden, Hamburg usw. vor.
Der dritte Punkt, den ich hervorheben möchte, hat mit der Perspektive der Schilderung zu tun. Pausewang gelingt es hervorragend, die Situation aus Sicht der jungen Heranwachsenden zu erzählen. Eine Gabe, die viele Jugendbuchautor:innen haben – hier ist es mir aber besonders positiv aufgefallen, weil es die Art und Weise, wie sich die Geschichte entwickelt, noch einmal dramatischer erscheinen lässt. Im Kern bedeutet das, das man als Leser:in eben nicht allwissend ist, sondern im Wesentlichen die gleichen Informationen hat, wie die junge Heldin. Mit der wollen die ach-so-klugen Erwachsenen kaum vernünftig sprechen, was sie über die Katastrophe mitbekommt, stammt aus Nachrichtenschnipseln und Gesprächsfetzen, die sie mal mehr, mal weniger gut einordnen kann.
Damit schließt sich im Übrigen der Kreis zur oben genannten Unwissenschaftlichkeit des Romans: Er ist zwar nicht in der Ich-Form, aber doch aus der Sicht einer Schülerin geschrieben und liest sich im Großen und Ganzen genau so. Umso bedrückender ist das Geschehen, umso drastischer die Schilderung. Dabei ist die Atomkatastrophe zu allem Überfluss nicht der einzige Tiefpunkt: Ein Gutteil der Geschichte dreht sich um die Flucht vor der radioaktiven Wolke, die in einigen Mitmenschen das Schlimmste hervorbringt. Wer das für übertrieben hält oder denkt, dass wir es längst hinter uns gelassen haben, wird durch die Corona-Pandemie aktuell eines Besseren belehrt, aber das nur am Rande…
Vom Lesegefühl her ist „Die Wolke“ ein kurzweiliges, schnell zu lesendes Buch. Die Sprache ist einfach und klar, die Geschichte sehr spannend. Von daher trägt der Roman den Jugendbuch-Sticker wohl zu recht – ich würde aber trotzdem auch jedem/jeder erwachsenen Leser:in empfehlen, einen Blick hineinzuwerfen. Es lohnt sich (zumal man in ein, zwei Abenden durch sein sollte) und hilft, die Erinnerung aufzufrischen und sich wieder bewusst zu machen, warum die Kernenergie auch heute noch keine sonderlich gute Idee ist.
Fazit: „Die Wolke“ ist eine der wichtigsten und eindringlichsten Warnungen vor einer Gefahr, die heute leider so groß zu sein scheint, wie eh und je.
Gesamteindruck: 6/7
Autor: Gudrun Pausewang
Originaltitel: Die Wolke.
Erstveröffentlichung: 1987
Umfang: ca. 220 Seiten
Gelesene Sprache: Deutsch
Gelesene Version: Taschenbuch