„Im Westen nichts Neues“ (2022) ist die dritte Verfilmung des 1929 veröffentlichten, gleichnamigen Romans von Erich Maria Remarque. Nach zwei US-Produktionen (1930 und 1979) ist vorliegendes Werk die erste deutsche Verfilmung des Stoffes und ist zum Zeitpunkt dieser Rezension im Jänner 2023 für zahlreiche internationale Preise nominiert. Wieso meine eigene Bewertung weit weniger euphorisch ausfällt, versuche ich im Folgenden herauszuarbeiten.
Gesamteindruck: 4/7
Adaption mit Makeln.
Zu „Im Westen nichts Neues“ habe ich grundsätzlich eine besondere Beziehung: Das Buch habe ich zum ersten Mal – ausgerechnet! – während meines Wehrdienstes gelesen, wo eine sehr zerlesene Ausgabe auf der Wachstube lag. Die Lektüre hat mich so beeindruckt, dass ich es in zwei aufeinanderfolgenden Wachdiensten gleich zwei Mal gelesen habe – und bis heute alle ein, zwei Jahre wieder hervorkrame. Langweilig ist es mir bisher noch nie geworden und ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich mich in den nächsten Jahren damit „überlesen“ könnte. Entsprechend hoch waren meine Erwartungen an vorliegenden Film, zusätzlich angestachelt durch sehr starke Bilder im Trailer.
Worum geht’s?
Nordfrankreich im 1. Weltkrieg: Als der 19-jährige Paul Bäumer an der Front ankommt, sind die Konfliktparteien längst in einen blutigen Stellungskrieg verstrickt. Schnell merkt Paul, der sich gemeinsam mit seinen Schulkameraden freiwillig gemeldet hat, dass es im Schützengraben ganz anders zugeht, als in den patriotischen Reden der Lehrerschaft. Zum Glück steht ihnen mit Stanislaus Katczinsky ein erfahrener Soldat zur Seite, mit dessen Hilfe die jungen Rekruten eine Chance haben, zumindest eine Zeitlang zu überleben. Und doch fällt einer nach dem anderen dem mörderischen Feuer zum Opfer…
Noch früher als der großartige Roman von Remarque hat mich die Verfilmung seines Werkes begeistert. Dabei spreche ich aber nicht vom Klassiker von 1930 (den habe ich erst viel später gesehen und war nicht so überwältigt, wie ich anhand der ihm zugeschriebenen Superlative eigentlich hätte sein müssen), sondern vom Fernsehfilm von 1979, u. a. mit Richard Thomas als Paul Bäumer und Ernest Borgnine als Stanislaus Katczinsky. Diese Arbeit von Regisseur Delbert Mann war prägend für mein erstes, konkretes Bild vom 1. Weltkrieg – und sie hat mein historisches Interesse an diesem Thema überhaupt erst geweckt. Und auch nach Ansicht des 2022er-Films bleibe ich dabei: Die Mann’sche Adaption ist die bis dato beste filmische Bearbeitung des Stoffes.
Technisch fein gemacht.
Was vorliegende Verfilmung betrifft, möchte ich zunächst die positiven Aspekte hervorheben: „Im Westen nichts Neues“ verfügt über fantastische production values, d. h. alles sieht großartig und sehr authentisch aus. Für den Dreh, der Großteils in Tschechien absolviert wurde (wie übrigens auch schon 1979), hat man augenscheinlich keine Kosten und Mühen gescheut, sodass man als Zuseher:in die erbärmlichen Zustände, unter denen hunderttausende Soldaten an der Westfront lebten und starben, fast am eigenen Leibe zu spüren meint: Dreck, Blut, das ständige Geschützfeuer, Hunger, Angst, Verzweiflung, Verwundung und der allgegenwärtige Tod – all das wurde meines Erachtens glaubwürdig und ohne Rücksicht auf das Wohlbefinden des Publikums inszeniert. Inklusive passender und überaus bedrückender Soundkulisse, unheilvoller Musik und starker Spezialeffekte.
Woran es ebenfalls wenig auszusetzen gibt, ist das Casting: Für die Hauptrolle hat man mit Felix Kammerer einen jungen Mann gefunden, dessen Gesicht perfekt in die Zeit passt, in der der Film spielt. In Hinblick auf die Nebenrollen hätte ich mir allerdings zumindest für den wichtigen Charakter Katczinsky einen etwas spezielleren Typen gewünscht – mag aber auch sein, dass ich hier zu sehr von der 1979er-Performance von Ernest Borgnine geprägt bin, der einen deutlich gereifteren und älteren „Kat“ gab. Welche Variante die „richtigere“ ist, kann ich nicht beurteilen, Fakt ist aber, dass sich Borgnine im Gegensatz zu Albrecht Schuch, der die Rolle 2022 spielt, deutlich stärker von seinen jungen Kollegen abhob. Man kann es auch so formulieren: Während Borgnine den „Kat“ eher als Vaterfigur anlegte, ist die Schuch’sche Version so etwas wie ein großer Bruder. Vom Rest der Darsteller bzw. Figuren ist mir eigentlich nur Daniel Brühl als Matthias Erzberger in Erinnerung geblieben (dazu etwas weiter unten mehr); mir ist insgesamt aber zumindest niemand negativ aufgefallen.
Eines möchte ich außerdem noch positiv hervorheben, bevor ich zur Kritik schreite: „Im Westen nichts Neues“ ist durchaus spannend inszeniert, was fast schon verwundert, sieht man sich die doch recht dünne Handlung – des Films, nicht des Romans! – an. Das liegt mitunter auch an der gefühlvollen und geradezu verschwenderisch schönen Bildkomposition, die auch in relativ langen Kamerafahrten kaum Längen aufkommen lässt. Ferner kann bzw. muss man – so seltsam und ungut es sich lesen mag – noch eines zugeben: Die häufig dargestellten, überaus brutalen Kampfhandlungen sind hervorragend choreografiert und von atemloser Spannung und Action geprägt. Mein Kompliment auch dafür an Regisseur Edward Berger und das Kamera-Team rund um den Briten James Friend: Eigentlich sind solche Sequenzen ja immer recht ähnlich, dennoch kommt hier zu keinem Zeitpunkt ein Gefühl von Übersättigung auf.
Meist weit weg von der Vorlage.
Die Frage, ob „Im Westen nichts Neues“ objektiv ein guter, vielleicht gar ein preiswürdiger Film ist, ist so leicht nicht zu beantworten. Ich habe die aus meiner subjektiven Sicht positiven Aspekte aufgezählt und glaube durchaus, dass z. B. Hauptdarsteller, Kamera, Schnitt, Ton oder andere technische Aspekte mit zum Besten gehören, das man aktuell im Genre sehen kann. Aber: Das Werk muss sich an seinem Titel messen lassen – und stellt mich als Verfilmung eines der wichtigsten (Anti-)Kriegsromane überhaupt nicht richtig zufrieden. So, jetzt ist es raus… und ich will natürlich versuchen, diese Einschätzung zu begründen.
Eines ist klar: Vorliegender Stoff wurde vorher zweimal sehr werkstreu verfilmt, was den Regisseur dazu bewogen haben mag, einige Dinge anders zu machen. Diesen Zugang verstehe ich einerseits, andererseits gibt es dennoch eine Vorlage, die aus bestimmten Gründen zu einem Klassiker geworden ist. Ich sage es ohne Umschweife: „Im Westen nichts Neues“ hat meines Erachtens über weite Strecken sehr wenig mit dem Roman zu tun und hat mich in dieser Hinsicht tatsächlich schwer enttäuscht. Dem Film fehlen – bis auf wenige Ausnahmen – praktisch ALLE Schlüsselszenen, die man mit der Geschichte von Remarque verbindet. Im Gegenzug stellt der Film einiges völlig anders dar, vor allem aber fügt er Sequenzen ein, die im Buch nicht vorkommen und die für mein Dafürhalten sogar dem Geist der Vorlage widersprechen.
Beginnen wir mit letzterem, also dem „Zusatzmaterial“: Ein wichtiger Aspekt bei Remarque ist die Konzentration auf die Perspektive des einfachen, unbekannten Soldaten. Die macht auch bei der Adaption von Edward Berger weite Teile der Handlung aus – als umso störender habe ich in der Folge jedoch jenen Ausflug in die hohe Politik empfunden, von dem Paul Bäumer abseits von Latrinengerüchten überhaupt nichts wissen konnte. So begleiten wir Matthias Erzberger in den Wald von Compiègne zu den Waffenstillstandsverhandlungen mit der französisch-englischen Delegation. Das mag grundsätzlich nicht unspannend sein, verwässert meiner Meinung nach aber einen essenziellen Aspekt des Romans: Die Soldaten als anonymer, bedenkenlos eingesetzter Spielball der Mächte, Menschenmaterial, das mal hier, mal dort eingesetzt wird, ohne über irgendwelche Hintergründe und Zusammenhänge informiert zu werden. Gerade diese Unwissenheit und der Verzicht darauf, sie im aufzuklären und einen Blick auf die politische Großwetterlage zu werfen, ist zu einem Gutteil dafür verantwortlich, dass der Roman dermaßen erschütternd wirkt. Darum finde ich diesen Exkurs des Films auch so entbehrlich; abgesehen davon, dass hier ein historisch verbrieftes Ereignis und reale Personen gezeigt werden, was nicht zum Rest der Handlung passt. Und auch, wenn der Versuch, zu zeigen, wie die Saat für den 2. Weltkrieg bereits 1918 gesät wurde, durchaus erwähnenswert ist, hat das alles schlicht und einfach nichts mit der Vorlage zu tun.
Der Film nimmt sich aber noch weitere Freiheiten heraus, die mitunter stark vom Roman abweichen. In den meisten Fällen passt das zwar besser, weil wir dabei – anders als beim Blick auf die Friedensverhandlungen – nicht die unmittelbare Umgebung der Hauptfigur verlassen. Was aber sehr merkwürdig anmutet: Die Handlung des Films scheint innerhalb weniger Monate (zwischen 1917 und dem Waffenstillstand im November 1918) stattzufinden. Nun wäre das an sich schon in Ordnung, im Buch finden sich ja ohnehin kaum Zeitangaben. Allerdings wirkt der Film dadurch – ganz im Gegensatz zu früheren Adaptionen, die auch in dieser Hinsicht stärker das Gefühl des Romans wiedergeben – übermäßig gerafft: Er konzentriert alles, was den Figuren widerfährt, ohne Not auf einen gefühlt viel zu engen Zeitrahmen, was reichlich unrealistisch anmutet; fast, als wäre das nur gemacht worden, um das Drama noch mehr zu steigern. Wer Remarques Vorlage kennt, hat dadurch eventuell sogar ein ernsthaftes Problem: Man weiß, wie viel eigentlich noch passieren „muss“, während man schon die Verhandlungen zum Waffenstillstand sieht – das hat zumindest mich auf gewisse Art nervös gemacht und mich bereits beim Ansehen befürchten lassen, dass im Endeffekt sehr viele wichtige Szenen fehlen werden. Das mag anderen Remarque-Kenner:innen ähnlich gegangen sein – oder ich bin zu streng, ich weiß es ehrlich gesagt nicht.
Der Regisseur scheint jedenfalls speziell die finale Tragödie, die sich rund um Paul Bäumer abspielt, in wenige Tage, ja Stunden Filmhandlung gepresst zu haben. Meines Erachtens keine gute Idee, weil eine solche Zuspitzung nicht so richtig zu Remarques Beschreibung des Krieges passen will. Was den Film bei mir mindestens einen Punkt kostet ist übrigens das Finale: Abgesehen davon, dass es im Roman ganz anders abläuft, hatte ich an dieser Stelle wohl das stärkste Gefühl von Effekthascherei. Ein letzter Großangriff, der kurz vor Inkrafttreten des Waffenstillstandes (11. November 1918) beginnt und die deutschen Truppen tief in die französischen Gräben eindringen lässt? Was hat das noch mit dem Schluss des Romans zu tun, auf den sich ja auch dessen Titel und damit auch der Name des Films beziehen, zu tun? Ich zitiere: „Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, daß der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.“ (Quelle: Remarque, Erich Maria: „Im Westen Nichts Neues“, Kiepenheuer & Witsch, 18. Auflage 2002, S. 197). Das, was im Film zum Schluss passiert, ist meines Erachtens das genaue Gegenteil eines Tages, an dem es im Westen nichts Neues zu vermelden gibt…
Es fehlt zu viel.
Neben dem, was „Im Westen nichts Neues“ der Romanhandlung hinzufügt, habe ich auch ein Problem mit dem, was weggelassen wurde. Von den zwölf Kapiteln, die das Buch umfasst, wird kaum eines vollständig (oder wenigstens über weite Teile) im Film thematisiert. Sogar eine der längeren Filmszenen, die Episode, in der Paul Bäumer gemeinsam mit einem französischen Soldaten im Granattrichter liegt, wird deutlich schneller abgehandelt, als man es sich erwarten würde, ist es doch gerade die Ausweglosigkeit und sich für den Protagonisten ewig hinziehende Länge der Situation, die man im Buch und auch in der 1979er-Verfilmung ständig zu spüren meint. Hier hat man hingegen den Eindruck, dass die Szene zwar für wichtig gehalten und deswegen aufgenommen wurde, man sie dann aber möglichst schnell abhandeln wollte. Ich mag mich freilich täuschen, mein Eindruck war jedenfalls so.
Davon abgesehen gibt es natürlich auch andere Szenen, Dialoge und Anspielungen, die man einordnen kann, wenn man das Buch kennt. Das ist zwar schön und gut, hilft aber nicht viel, wenn fast alle Schlüsselszenen fehlen, darunter die Ausbildung unter dem sadistischen Unteroffizier, die zeigen soll, was passiert, wenn man einfachen Menschen plötzlich Macht über andere gibt (und was der Unterschied zwischen Fronteinsatz und Exerzierdienst in der Kaserne ist), die Episoden, die das Elend der Feld- und Heimat-Lazarette zeigen, der Heimaturlaub bei den Eltern, in dem die immer breiter werdende Kluft zwischen Soldaten und Hinterland thematisiert wird usw. usf.
Ich verstehe schon, dass nicht jedes Kapitel des Buches erschöpfend behandelt werden konnte, das haben die alten Filme ja auch nicht gemacht – aber wie wenig „Im Westen nichts Neues“ in diesem Film letzten Endes steckt, hat mich schon ein wenig erschreckt, wenn ich ehrlich bin. Spannend wäre übrigens gewesen, im Film das Kapitel zu verarbeiten, in dem Paul Bäumer russische Kriegsgefangene bewachen muss. Denn das kam auch im 1979er-Film nicht vor (ob es in der 1930er-Adaption enthalten war, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr), wäre also eine Möglichkeit gewesen, etwas Neues zu machen und dabei werkstreu zu bleiben. Interessante Randnotiz: Die Eröffnungssequenz des Romans, der Streit mit dem Koch, der für 150 Mann gekocht hat, von denen nur noch 80 leben, kommt im Film erst als eine der letzten Szenen, was ich aber nicht negativ beurteilen würde.
Fazit: „Im Westen nichts Neues“ ist ein guter Antikriegsfilm. Ja, wirklich! Er verfügt über einen starken Cast und Bilder, die den Horror des Stellungskrieges in selten gekannter Intensität zeigen. Leider wird er jedoch seiner Vorlage nicht ansatzweise gerecht, was für mich Grund genug für eine deutliche Abwertung ist. Unter einem anderen Titel – und mit leicht adaptierter Handlung – hätte ich hier mindestens einen Punkt mehr springen lassen. So muss es für magere 4 reichen – sehr, sehr schade und enttäuschend, aber es hilft nichts: Wer sich einen großen Namen aussucht, muss sich auch daran messen lassen.
Gesamteindruck: 4/7
Originaltitel: Im Westen nichts Neues.
Regie: Edward Berger
Produktion: Malte Grunert, Daniel Marc Dreifuss
Drehbuch: Lesley Paterson, Edward Berger, Ian Stokell
Jahr: 2022
Land: Deutschland, USA, Großbritannien
Laufzeit: ca. 150 Minuten
Besetzung (Auswahl): Felix Kammerer, Albrecht Schuch, Aaron Hilmer, Daniel Brühl, Moritz Klaus, Edin Hasanović