Mit „Harvester“ legte das kurzlebige US-Studio DigiFX Interactive 1996 eines der seltsamsten Spiele vor, die ich je auf meiner Festplatte hatte. Und das gleich auf mehreren Ebenen, denn sowohl technisch als auch inhaltlich dürfte es nur eine Handvoll ähnlicher Produkte geben. Der große Erfolg war dem Werk freilich nicht beschieden, was kaum verwundern sollte. Dennoch würde ich allen, die Horror-Adventures mit einer ordentlichen Portion Sex und Gore mögen, einen Versuch empfehlen.
Gesamteindruck: 4/7
Groteskes Abenteuer.
Vorab eine Warnung für potenzielle Interessent:innen: Einerseits ist der Zahn der Zeit nicht gut zu „Harvester“ gewesen, man sieht dem Programm sehr deutlich an, dass es aus den Anfangstagen des Mediums CD-ROM stammt. Entsprechend schlecht ist es optisch, akustisch und in Hinblick auf die Nutzer:innenführung gealtert. Andererseits muss man mit einer stellenweise arg verstörenden, blutigen und brutalen Erfahrung rechnen, die auch durch die grobschlächtige Grafik kaum entschärft wird: Mord, Selbstmord, Verstümmelung, Folter, Voyeurismus und Kannibalismus – das Spiel lässt kaum ein Tabu aus und zeigt all das in Bildern, die in ihrer Härte nach wie vor noch abstoßen. Wie das anno 1996, als die Welt noch eine ganz andere war, auf die zuständigen offiziellen Stellen gewirkt haben muss, werden sich Zeitgenoss:innen nur zu gut vorstellen können.
Darum geht’s:
Steve staunt nicht schlecht, als er eines Morgens erwacht: Weder weiß er, wo oder wer er ist, noch kennt er irgend jemanden in der amerikanischen Kleinstadt Harvest. Was er aber schnell feststellt: Alle, die er trifft, benehmen sich irgendwie merkwürdig und unnatürlich. Und sie scheinen ihn zu kennen, nehmen ihm den Gedächtnisverlust jedoch nicht ab. Beim Versuch, mehr über seine Lage zu erfahren, stößt Steve immer wieder auf Gerüchte über eine geheimnisvolle Loge in der Stadt. Dort, so munkelt man, wäre man in der Lage, ihm zu helfen. Der Haken: Um aufgenommen zu werden, müssen eine Reihe moralisch überaus zweifelhafter Aufgaben erfüllt werden…
Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Die Optik von „Harvester“ dürfte für viele moderne Spieler:innen eine echte Hürde sein. Das Problem hat übrigens nicht nur mit dem Alter des Spiels zu tun, denn es gibt deutlich ältere Programme, die auch heute noch passabel aussehen. „Harvester“ ist allerdings ein Vertreter einer Richtung, die sich als Sackgasse erwiesen hat: Der Einsatz von echten Schauspieler:innen, die anstelle von animierten Sprites vor gezeichneten Hintergründen agieren. Diese Präsentationsform, die man vor allem von den unsäglichen interaktiven Filmen kennt, ist mittlerweile ausgestorben – zu Recht, wie ich finde, ist sie doch im Vergleich zum Retro-Charme des guten, alten Pixel-Looks extrem schlecht gealtert. Abgesehen davon dürfte die Technik von „Harvester“ zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon nicht mehr ganz taufrisch gewesen sein – anders kann man sich die schlechte Qualität der Videos kaum erklären (dem Vernehmen nach wurden sie nicht komprimiert, was die niedrige, auf aktuellen Monitoren daher unglaublich pixelige, Auflösung erklärt).
Alles in allem wirkt „Harvester“ fast, als hätte man bei DigiFX 1996 nach wie vor nicht gewusst, was man mit dem riesigen Speicherangebot der CD-ROM (im Vergleich zu den wenige Jahre vorher noch gebräuchlichen Disketten) anfangen soll, weswegen man sich für diese spezielle, sehr speicherintensive Optik entschied. Allerdings, so viel sei auch festgehalten, wirkt die eigentümliche Grafik im Verbund mit dem nicht minder seltsamen Inhalt gar nicht so verkehrt, wie man meinen möchte, sodass ich sie gar nicht zwingend als negativ bewerten möchte – sehr wohl aber, wie angedeutet, als Hürde für Spieler:innen, die die 1990er-Jahre und die CD-ROM-Revolution nicht miterlebt haben. Was jedoch wirklich besser hätte gehen müssen: Der Sound. Die Musik ist zwar in Ordnung, die Sprachausgabe und die Effekte sind aber vollkommen verrauscht und kaum zu verstehen. Schade, gerade dafür wäre die CD ja ein geeignetes Medium gewesen, aber vermutlich war durch die Speicherplatz-intensiven Videos dann doch schneller die Grenze erreicht, als den Programmierer:innen lieb gewesen sein dürfte.
Typisch: Point & Click.
Bevor wir zum Spiel kommen, noch ein Wort zur Bedienung: „Harvester“ kommt – so wie es seinerzeit längst Usus war – ohne sichtbares Interface aus. Der sensitive Mauszeiger ist das einzige Werkzeug, das man braucht; er verändert sich je nach Situation in eine Hand, um etwas aufzuheben, einen Mund, wenn man einen NPC ansprechen möchte usw. Die Bewegung erfolgt ebenfalls über die Maus, aber auch eine direkte Steuerung über die Pfeiltasten ist möglich. Ansonsten darf bzw. muss auch gekämpft (ja, richtig gelesen!) werden, was ebenfalls sehr einfach gelöst wurde: Die rechte Maustaste löst – je nach Waffe – einen Schlag oder Schuss aus, der, je nach Position des Zeigers, entweder in die Beine oder in den Brust- bzw. Kopfbereich eines:r Gegner:in geht. Das geht einigermaßen gut von der Hand, sodass die Kämpfe recht einfach sind. Zum Glück.
„Harvester“ ist von der Mechanik her also ein klassisches Point & Click-Adventure mit Kampfeinlagen und den üblichen Inventarrätseln. Wie man es von derartigen Spielen kennt, sind die meisten Puzzles durch ein wenig Herumprobieren (benutze alles mit jedem…) recht einfach lösbar, an ein oder zwei Stellen musste ich mir allerdings mit einem Walkthrough helfen. Einer der Gründe dafür ist auch kein unbekannter: Ab und an verschwinden kleine Gegenstände, die 1996 wohl noch besser erkennbar waren, im Pixel-Matsch, wenn man in einem relativ großen Fenster spielt. Davon abgesehen gibt es zwar ein paar unlogische Rätsel, alles in allem hält sich der Schwierigkeitsgrad in dieser Hinsicht aber in Grenzen. Eine Besonderheit: Man hat zwar kein Zeitlimit im eigentlichen Sinn, im Spiel gibt es aber einen automatisierten Tag-Nacht-Wechsel, der erst ausgelöst wird, wenn man alles erledigt hat, was das „Drehbuch“ für die aktuelle Periode vorsieht. Das war mir nicht bewusst, was ebenfalls ein Grund für verschämte Blicke in die Komplettlösung war.
Was an dieser Stelle auch noch erwähnenswert ist: Mir wäre zwar keine echte Sackgasse, die das Spiel unlösbar gemacht hätte, begegnet, das heißt aber nicht, dass es keinen „Game Over“-Screen gäbe: Einerseits habe ich die Kämpfe erwähnt, die durchaus tödlich enden können, andererseits gibt es ab und an tödliche Fallen (es kann auch schon reichen, einem NPC eine falsche Antwort zu geben und man bekommt eine Kugel in den Kopf) und die Möglichkeit, verhaftet zu werden. Es ist also sinnvoll, häufig und in mehreren Spielständen zu speichern; automatisch geht das nicht, umständlicherweise gibt es auch keine Quicksave-Funktion. Nimmt man all diese Dinge zusammen, kann man „Harvester“ spielmechanisch fast schon als fehlendes Bindeglied zwischen den Adventures von Sierra und Lucas Arts einordnen, man verzeihe mir die Blasphemie. Anmerkung am Rande: Man kann in „Harvester“, völlig untypisch für ein Adventure, fast jeden NPC angreifen und töten, was sich allerdings nicht empfiehlt, wenn man das Spiel beenden möchte.
Untypisch: Gewalt und Sex.
Der Adventure-Part ist für mein Dafürhalten gelungen, auf die Kämpfe hätte ich verzichten können (speziell im letzten Abschnitt des Spiels werden sie aufgrund ihrer Häufigkeit zur echten Plage). Wäre das alles, wäre „Harvester“ wohl ein recht typisches, aufgrund kleinerer Schwächen mit Sicherheit längst vergessenes, Abenteuer. Gut, zu großer Berühmtheit ist das Spiel ohnehin nie gelangt, was aber vermutlich genau mit dem Punkt zu tun hat, der das Werk – mehr noch als seine Technik – von zeitgenössischen Rätselspielen abhebt: Die völlig absurde, durchgeknallte Story mit ihren zynischen Untertönen, die kompromisslos brutale Optik, die abstrusen Charaktere und der groteske Schauplatz.
Diese Faktoren dürften dafür gesorgt haben, dass die Zensur gnadenlos zugeschlagen hat. Auch die Presse mag durch die unverhohlene Gewalt verschreckt worden sein, was ebenfalls nicht dazu beigetragen hat, das Spiel einer breiten Masse bekannt zu machen. Und: Ja, es stimmt, in „Harvester“ wird blutigst gemordet und man mordet auch selbst, die Tat wird im Nachhinein aber fast immer mit einem schwarz-humorigen Seitenhieb kommentiert und eingeordnet. Damit muss man freilich auch umgehen können (bzw. muss man es nur dann, wenn man dieses Spiel spielen möchte). Relativierend könnte man dazu anbringen, dass die Gewalt im Spiel abstoßend sein mag, „Harvester“ speziell aus heutiger Sicht jedoch so „drüber“ ist, dass man es zu keinem Zeitpunkt richtig ernst nehmen kann.
Ich habe übrigens lange überlegt, was eine hinreichend bekannte Referenz für die Atmosphäre von „Harvester“ sein könnte. Letztlich bin ich immer wieder bei einem Namen gelandet: „Fallout“. Schon klar: Das ist ein völlig anderes Spiel mit einer anderen Story; dennoch frage ich mich, ob Brian Fargo mal einen Blick auf „Harvester“ geworfen hat, bevor er und Interplay 1997 jenen Meilenstein veröffentlicht haben. Denn die grundsätzliche Stimmung eines extrem zynischen Amerika der 1950er, inklusive der allgegenwärtigen Angst vor den Roten, ist hier wie dort sehr ähnlich. Vor allem aber der – bei aller Brutalität – sehr satirische Zugang scheint mir aus einem ähnlichen Mindset zu kommen. Das aber nur als grobe Orientierung, von der Qualität und Tiefe eines „Fallout“ ist „Harvester“ weit entfernt.
Unerwartet: Besser als gedacht.
Abschließend stellt sich die Frage, wie das alles zu bewerten ist. Im Haben würde ich die Atmosphäre verbuchen, die zumindest jene Spieler:innen, die über eine Ader für das Morbide und Groteske verfügen, überzeugen sollte. Der gesamte Adventure-Part mit seinen klassischen Rätseln hat mir persönlich ebenfalls gefallen, gleiches gilt für den Humor (der natürlich ebenfalls sehr, sehr dunkel ist). Und ja, ich gebe es zu: Ich finde es nach wie vor erfrischend, wenn ein Spiel aus jener Zeit, das kein Shooter ist, nicht so sauber und poliert ist und sich auch nicht davor scheut, ordentlich Blut spritzen zu lassen. Auch hier nochmal: Das kann und muss nicht Jede:r mögen, tue ich auch nicht immer. Aber in diesem Fall finde ich das Gesamtbild sehr stimmig.
Heißt das nun, dass „Harvester“ ein verkanntes Meisterwerk ist, ein Spiel, das völlig zu Unrecht niemand kennt? Nein, soweit würde ich keinesfalls gehen. Blendet man das ganze Blut und die absurde Brutalität aus, bleibt unterm Strich ein brauchbares, wenn auch nicht überragendes Point & Click-Adventure mit lästigen Kampfeinlagen und – neben einigen guten – auch ein paar unlogischen Rätseln. Die Grafik ist sehr gewöhnungsbedürftig, der Sound schlecht abgemischt, der Schwierigkeitsgrad geht in Ordnung. Es gibt sogar zwei mögliche Enden und die ein oder andere Möglichkeit, auf dem Weg dorthin etwas anders vorzugehen; beides ist aber sehr oberflächlich gehalten.
Ich denke, für all das sind 4 von 7 Punkten angemessen. Wer zart besaitet ist und/oder das Geschehen anders einordnet, was ich durchaus für legitim halte, wird einen oder zwei Zähler abziehen müssen. Ob „Harvester“ tatsächlich die bissige Gesellschaftskritik ist, die manche darin sehen bzw. auf einer merkwürdigen Meta-Ebene auf die Unterschiede zwischen medialer und realer Gewalt referenziert, wage ich nicht abschließend zu beurteilen. Ich kann mir vorstellen, dass sich auch die Entwickler:innen nicht ganz klar darüber gewesen sein mögen.
Fazit: Ich habe „Harvester“ überraschend gern gespielt und würde es zumindest jener winzigen Zielgruppe, die positive Assoziationen zu genannten Attributen hat, für einen Versuch ans Herz legen. Zum Pflichtprogramm gehört es aber mit Sicherheit für niemanden.
Gesamteindruck: 4/7
Genre: Adventure
Entwickler: DigiFX Interactive
Publisher: Virgin Interactive
Jahr: 1996
Gespielt auf: PC
Screenshots aus „Harvester“ – Copyright beim Entwickler!