„Anomaly: Warzone Earth“ (2011) ist das Debüt des polnischen Entwicklers 11 Bit Studios, der später mit „This War of Mine“ (2014) und „Frostpunk“ (2018) für Furore sorgen sollte. Dabei braucht sich vorliegendes Spiel nicht vor seinen prominenteren Nachfolgern zu verstecken, denn wir haben es hier mit einem überraschend unterhaltsamen Zeitvertreib zu tun.
Gesamteindruck: 6/7
Treten wir E. T. in den A…
„Anomaly“ (wie ich den Titel abkürze) ist eher zufällig in meiner Spielesammlung gelandet: Bei einem größeren Einkauf nahm ich es quasi im Vorbeigehen mit – Screenshots und Beschreibung hatten mir gefallen und der Preis… naja, 0,89 Euro kann man schon mal für ein Spiel riskieren, von dem man noch nicht einmal dem Namen nach gehört hat. Danach lag es lange auf dem Pile of Shame, bis ich Ende 2023 plötzlich Lust auf eine Prise Strategie hatte. Die Überraschung war groß, als ich nach ein paar Minuten feststellen musste, dass sich „Anomaly“ ganz anders spielt, als ich erwartet habe.
Darum geht’s:
Einmal mehr haben sich Außerirdische entschlossen, unseren Planeten zu besuchen. Freundlich scheinen die Aliens allerdings nicht zu sein: Teile ihres Raumschiffs landen in verschiedenen Großstädten und legen sie dabei gleich in Schutt und Asche. Ehrensache, dass sich die Menschheit das nicht bieten lässt und ihre beste Kampfgruppe, das 14th Platoon, schickt, um die Situation zu klären…
Die Story liest sich generisch, wird aber einigermaßen spannend erzählt und beinhaltet sogar die eine oder andere Wendung. Im Prinzip ist sie aber ohnehin Nebensache, denn die Qualitäten von „Anomaly“ liegen nicht in seiner Metapher, sondern in der Mechanik. Dabei ist – ich habe es eingangs angedeutet – gar nicht so klar, um was für eine Art Spiel es sich hier handelt: Die Screenshots lassen auf Echtzeit-Strategie oder Runden-Taktik schließen, in der einen oder anderen Beschreibung im Netz ist auch immer wieder von Tower Defense, einem Sub-Genre der Echtzeit-Strategie, die Rede.
Fakt ist: Nichts davon trifft richtig zu und 11 Bit Studios haben hier tatsächlich etwas völlig Eigenständiges geschaffen, das zumindest ich so noch nie gesehen und gespielt habe. Dabei ist der Ablauf relativ schnell erklärt: Man ist für einen militärischen Konvoy verantwortlich, der ein überschaubar großes Kampfgebiet zu durchqueren hat. Dieses Unterfangen wird von außerirdischen Kampfmaschinen erschwert, die vom Computer auf der Karte verteilt wurden. Auf dem Weg zum Missionsziel ist es ratsam, so viele feindliche Stellungen wie möglich zu vernichten (in manchen Szenarien müssen bestimmte Ziele zwangsläufig eliminiert werden), weil man dafür mit Geld (für Upgrades) und anderen Goodies belohnt wird. Wird der Konvoy vernichtet und man hat kein Geld mehr übrig, um sich zumindest ein neues Fahrzeug zu kaufen, muss die aktuelle Mission neu gestartet werden. Ab und an gibt es auch ein Zeitlimit, dessen Ablauf ebenfalls zum Game Over führt, in der Regel gibt es diese Form von Druck aber glücklicherweise nicht.
Alleinstellungsmerkmale.
Das alles mag nach business as usual klingen – sieht man genauer hin, hat es das Spielprinzip jedoch in sich. Zunächst hat man beim Zusammenstellen des Konvoys die Qual der Wahl: Setzt man eher auf Panzerung oder auf Feuerkraft? Nimmt man Schildgeneratoren mit oder verzichtet man zugunsten anderer Fähigkeiten auf den zusätzlichen Schutz? Leistet man sich eher Upgrades der bestehenden Fahrzeuge oder kauft man ein Modell mit anderen Stärken und Schwächen? Man kann und muss unterwegs zwar immer mal wieder umdisponieren (d. h. auch die Formation ändern und/oder neue Fahrzeuge kaufen), die Ressourcen sind allerdings spärlich, sodass jeder Verlust weh tut. Hat man sich den Konvoy seines Vertrauens gebastelt, legt man auf der Karte die Route fest, die die Fahrzeuge nehmen sollen. Die Möglichkeiten sind dabei relativ begrenzt – nur Straßen sind begeh- bzw. befahrbares Terrain, d. h. man gibt letztlich nur vor, an welchen Stellen die Richtung geändert werden soll. Auch hier muss man flexibel bleiben und während der Kampfhandlungen stets bereit sein, Anpassungen vorzunehmen, also z. B. den Befehl zu geben, an der nächste Kreuzung doch links statt rechts abzubiegen.
Stehen die Zusammensetzung des Konvoys und die Route fest, geht es los und es gibt im wahrsten Sinne des Wortes kein Halten mehr: Die eigenen Panzer, Crawler & Co. fahren vollautomatisch los und können nicht mehr gestoppt werden. Heißt: Braucht man z. B. eine Reparaturpause, muss man versuchen, an einer möglichst ungefährlichen Stelle eine Schleife in die Route zu bauen, dort wird dann so lange im Kreis gefahren, bis man eine neue Strecke vorgibt. Man lenkt also genau genommen nicht den Konvoy, zumindest nicht direkt, sondern man spielt den Commander, eine Art Mischung aus Manager und Militärstrategen.
Und das ist eine weitere große Besonderheit von „Anomaly“: Im Gegensatz zu klassischen Echtzeit-Strategie-Spielen hat der Commander tatsächlich eine Präsenz auf dem Bildschirm: Ein kleines Sprite, das direkt gesteuert wird und volle Bewegungsfreiheit genießt. Das ist wichtig, denn die eigenen Truppen folgen wie erwähnt stur ihrem Pfad folgen und richten ihr Feuer (auf das man übrigens keinerlei Einfluss hat) einfach immer auf den nächsten Gegner in Reichweite ihrer Geschütze. Der Commander kann hingegen gar nicht schießen, er nutzt stattdessen verschiedene Fähigkeiten seines Spezialanzugs, indem er beispielsweise Reparaturzonen einrichtet, die Position des Konvoys vernebelt oder Funkbojen zur Ablenkung von feindlichem Geschützfeuer setzt.
All das liest sich wahnsinnig kompliziert, funktioniert in der Praxis aber erstaunlich einfach und intuitiv: Man stellt den Konvoy zusammen, plant die Route, läuft vor, hinter oder neben den Fahrzeugen her und aktiviert bei Bedarf verschiedene Funktionen. Das wird mitunter durchaus hektisch (eine Pause wie man sie z. B. aus Rollenspielen wie „Baldur’s Gate“ kennt, gibt es nicht), das Spiel bietet aber genügend positives Feedback, um kaum Frust aufkommen zu lassen. Will sagen: Es macht einfach einen Heidenspaß, wenn der sorgsam gepflegte und aufgebaute Konvoy eine Stellung nach der anderen ausschaltet – aber es ist auch ungemein befriedigend, wenn man es z. B. in letzter Sekunde schafft, schwer beschädigte Einheiten zu reparieren. Dass es immer ein schönes Gefühl ist, eine Mission zu schaffen, versteht sich von selbst – allerdings ist es hier bereits auf dem mittleren Schwierigkeitsgrad so, dass man praktisch durchgehend aus dem letzten Loch pfeift.
Kaum Grund zur Klage.
Man kann sich nun fragen, wieso „Anomaly“ nicht die Höchstwertung bekommt. So viel sei vorweggeschickt: An Grafik und Sound liegt es nicht – vor allem letzterer überzeugt voll und ganz (professionelle Sprecher:innen, unterschiedliche Musik, die auch zum jeweiligen Einsatzgebiet passt, satte Waffen- und Explosionsgeräusche). Die Grafik ist grundsätzlich in Ordnung, erinnert mich aber fast ein bisschen zu sehr an das, was man heute oft auf Smartphones zu sehen bekommt. Abgesehen davon fehlt es an dieser Stelle etwas an Abwechslung, denn allzu groß sind die optischen Unterschiede zwischen den einzigen Karten, Tokio und Bagdad, leider nicht. Wobei hierzu betont werden sollte, dass „Anomaly“ ein Indie-Projekt ist und dafür geradezu unglaublich gut gezeichnet und designed ist (denn auch über Interface und Steuerung kann man nicht klagen).
Der größte Kritikpunkt dürfte für viele Interessent:innen tatsächlich der Umfang sein: Ich habe für die Story-Kampagne im mittleren Schwierigkeitsgrad knapp 10 Stunden gebraucht, andere mögen hier sogar noch deutlich schneller sein. Dabei beschränkt sich das Kampfgebiet bis zu Schluss auf die genannten Städte – was anderes bekommt man leider nicht zu sehen. Ist man mit der Story durch, gibt es noch die Möglichkeit, Skirmishes (eine festgelegte Anzahl an Wellen von Feinden sind in vorgegebener Zeit zu besiegen) in beiden Gebieten zu spielen – ein Modus, der mich persönlich dann überhaupt nicht gereizt hat, vielleicht bin ich aber einfach nicht der Typ dafür.
Interessanterweise hilft der vergleichsweise geringe Umfang dem Spiel, nicht langweilig zu werden. Im Englischen heißt es so schön: „it doesn’t overstay its welcome“, was durchaus wörtlich zu nehmen ist. Aus – wie ich annehme – Budgetgründen ist nämlich nicht nur die Anzahl der Karten begrenzt: Der Commander hat nur vier Spezialfähigkeiten und auch die Auswahl an eigenen und gegnerischen Einheiten ist vergleichsweise klein. Darum würde ich meinen, dass es nicht viel Sinn gehabt hätte, das Spiel noch länger zu machen – ich fand die 10 Stunden genau richtig, sowohl von der Dauer als auch von der Intensität her (vom geringen Preis, den ich dafür bezahlt habe, ganz zu schweigen). Wer allerdings ein Spiel mit viel Tiefgang sucht, in das hunderte Stunden versenkt werden können, wird mit „Anomaly“ nicht sonderlich glücklich werden.
Abschließend möchte ich noch einmal kurz auf das Genre eingehen. Tower Offense oder Reversed Tower Defense sind tatsächlich die passendsten Begriffe. „Anomaly“ dreht eben das Defense-Prinzip und bringt die Spielenden in die offensive Position, in der sie sich plötzlich selbst durch gut ausgebaute Stellungen winden müssen, um ein Ziel zu erreichen. Ein tolles Konzept, das sich für mich auch 2023 noch wahnsinnig frisch und unverbraucht angefühlt hat.
Gesamteindruck: 6/7
Genre: Strategie
Entwickler: 11 bit studios
Publisher: Headup Games
Jahr: 2011
Gespielt auf: PC
Screenshots aus „Anomaly: Warzone Earth“ – Copyright beim Entwickler!