SpielWelt: Anomaly: Warzone Earth


„Anomaly: Warzone Earth“ (2011) ist das Debüt des polnischen Entwicklers 11 Bit Studios, der später mit „This War of Mine“ (2014) und „Frostpunk“ (2018) für Furore sorgen sollte. Dabei braucht sich vorliegendes Spiel nicht vor seinen prominenteren Nachfolgern zu verstecken, denn wir haben es hier mit einem überraschend unterhaltsamen Zeitvertreib zu tun.

Gesamteindruck: 6/7


Treten wir E. T. in den A…

„Anomaly“ (wie ich den Titel abkürze) ist eher zufällig in meiner Spielesammlung gelandet: Bei einem größeren Einkauf nahm ich es quasi im Vorbeigehen mit – Screenshots und Beschreibung hatten mir gefallen und der Preis… naja, 0,89 Euro kann man schon mal für ein Spiel riskieren, von dem man noch nicht einmal dem Namen nach gehört hat. Danach lag es lange auf dem Pile of Shame, bis ich Ende 2023 plötzlich Lust auf eine Prise Strategie hatte. Die Überraschung war groß, als ich nach ein paar Minuten feststellen musste, dass sich „Anomaly“ ganz anders spielt, als ich erwartet habe.

Darum geht’s:
Einmal mehr haben sich Außerirdische entschlossen, unseren Planeten zu besuchen. Freundlich scheinen die Aliens allerdings nicht zu sein: Teile ihres Raumschiffs landen in verschiedenen Großstädten und legen sie dabei gleich in Schutt und Asche. Ehrensache, dass sich die Menschheit das nicht bieten lässt und ihre beste Kampfgruppe, das 14th Platoon, schickt, um die Situation zu klären…

Die Story liest sich generisch, wird aber einigermaßen spannend erzählt und beinhaltet sogar die eine oder andere Wendung. Im Prinzip ist sie aber ohnehin Nebensache, denn die Qualitäten von „Anomaly“ liegen nicht in seiner Metapher, sondern in der Mechanik. Dabei ist – ich habe es eingangs angedeutet – gar nicht so klar, um was für eine Art Spiel es sich hier handelt: Die Screenshots lassen auf Echtzeit-Strategie oder Runden-Taktik schließen, in der einen oder anderen Beschreibung im Netz ist auch immer wieder von Tower Defense, einem Sub-Genre der Echtzeit-Strategie, die Rede.

Fakt ist: Nichts davon trifft richtig zu und 11 Bit Studios haben hier tatsächlich etwas völlig Eigenständiges geschaffen, das zumindest ich so noch nie gesehen und gespielt habe. Dabei ist der Ablauf relativ schnell erklärt: Man ist für einen militärischen Konvoy verantwortlich, der ein überschaubar großes Kampfgebiet zu durchqueren hat. Dieses Unterfangen wird von außerirdischen Kampfmaschinen erschwert, die vom Computer auf der Karte verteilt wurden. Auf dem Weg zum Missionsziel ist es ratsam, so viele feindliche Stellungen wie möglich zu vernichten (in manchen Szenarien müssen bestimmte Ziele zwangsläufig eliminiert werden), weil man dafür mit Geld (für Upgrades) und anderen Goodies belohnt wird. Wird der Konvoy vernichtet und man hat kein Geld mehr übrig, um sich zumindest ein neues Fahrzeug zu kaufen, muss die aktuelle Mission neu gestartet werden. Ab und an gibt es auch ein Zeitlimit, dessen Ablauf ebenfalls zum Game Over führt, in der Regel gibt es diese Form von Druck aber glücklicherweise nicht.

Alleinstellungsmerkmale.

Das alles mag nach business as usual klingen – sieht man genauer hin, hat es das Spielprinzip jedoch in sich. Zunächst hat man beim Zusammenstellen des Konvoys die Qual der Wahl: Setzt man eher auf Panzerung oder auf Feuerkraft? Nimmt man Schildgeneratoren mit oder verzichtet man zugunsten anderer Fähigkeiten auf den zusätzlichen Schutz? Leistet man sich eher Upgrades der bestehenden Fahrzeuge oder kauft man ein Modell mit anderen Stärken und Schwächen? Man kann und muss unterwegs zwar immer mal wieder umdisponieren (d. h. auch die Formation ändern und/oder neue Fahrzeuge kaufen), die Ressourcen sind allerdings spärlich, sodass jeder Verlust weh tut. Hat man sich den Konvoy seines Vertrauens gebastelt, legt man auf der Karte die Route fest, die die Fahrzeuge nehmen sollen. Die Möglichkeiten sind dabei relativ begrenzt – nur Straßen sind begeh- bzw. befahrbares Terrain, d. h. man gibt letztlich nur vor, an welchen Stellen die Richtung geändert werden soll. Auch hier muss man flexibel bleiben und während der Kampfhandlungen stets bereit sein, Anpassungen vorzunehmen, also z. B. den Befehl zu geben, an der nächste Kreuzung doch links statt rechts abzubiegen.

Stehen die Zusammensetzung des Konvoys und die Route fest, geht es los und es gibt im wahrsten Sinne des Wortes kein Halten mehr: Die eigenen Panzer, Crawler & Co. fahren vollautomatisch los und können nicht mehr gestoppt werden. Heißt: Braucht man z. B. eine Reparaturpause, muss man versuchen, an einer möglichst ungefährlichen Stelle eine Schleife in die Route zu bauen, dort wird dann so lange im Kreis gefahren, bis man eine neue Strecke vorgibt. Man lenkt also genau genommen nicht den Konvoy, zumindest nicht direkt, sondern man spielt den Commander, eine Art Mischung aus Manager und Militärstrategen.

Und das ist eine weitere große Besonderheit von „Anomaly“: Im Gegensatz zu klassischen Echtzeit-Strategie-Spielen hat der Commander tatsächlich eine Präsenz auf dem Bildschirm: Ein kleines Sprite, das direkt gesteuert wird und volle Bewegungsfreiheit genießt. Das ist wichtig, denn die eigenen Truppen folgen wie erwähnt stur ihrem Pfad folgen und richten ihr Feuer (auf das man übrigens keinerlei Einfluss hat) einfach immer auf den nächsten Gegner in Reichweite ihrer Geschütze. Der Commander kann hingegen gar nicht schießen, er nutzt stattdessen verschiedene Fähigkeiten seines Spezialanzugs, indem er beispielsweise Reparaturzonen einrichtet, die Position des Konvoys vernebelt oder Funkbojen zur Ablenkung von feindlichem Geschützfeuer setzt.

All das liest sich wahnsinnig kompliziert, funktioniert in der Praxis aber erstaunlich einfach und intuitiv: Man stellt den Konvoy zusammen, plant die Route, läuft vor, hinter oder neben den Fahrzeugen her und aktiviert bei Bedarf verschiedene Funktionen. Das wird mitunter durchaus hektisch (eine Pause wie man sie z. B. aus Rollenspielen wie „Baldur’s Gate“ kennt, gibt es nicht), das Spiel bietet aber genügend positives Feedback, um kaum Frust aufkommen zu lassen. Will sagen: Es macht einfach einen Heidenspaß, wenn der sorgsam gepflegte und aufgebaute Konvoy eine Stellung nach der anderen ausschaltet – aber es ist auch ungemein befriedigend, wenn man es z. B. in letzter Sekunde schafft, schwer beschädigte Einheiten zu reparieren. Dass es immer ein schönes Gefühl ist, eine Mission zu schaffen, versteht sich von selbst – allerdings ist es hier bereits auf dem mittleren Schwierigkeitsgrad so, dass man praktisch durchgehend aus dem letzten Loch pfeift.

Kaum Grund zur Klage.

Man kann sich nun fragen, wieso „Anomaly“ nicht die Höchstwertung bekommt. So viel sei vorweggeschickt: An Grafik und Sound liegt es nicht – vor allem letzterer überzeugt voll und ganz (professionelle Sprecher:innen, unterschiedliche Musik, die auch zum jeweiligen Einsatzgebiet passt, satte Waffen- und Explosionsgeräusche). Die Grafik ist grundsätzlich in Ordnung, erinnert mich aber fast ein bisschen zu sehr an das, was man heute oft auf Smartphones zu sehen bekommt. Abgesehen davon fehlt es an dieser Stelle etwas an Abwechslung, denn allzu groß sind die optischen Unterschiede zwischen den einzigen Karten, Tokio und Bagdad, leider nicht. Wobei hierzu betont werden sollte, dass „Anomaly“ ein Indie-Projekt ist und dafür geradezu unglaublich gut gezeichnet und designed ist (denn auch über Interface und Steuerung kann man nicht klagen).

Der größte Kritikpunkt dürfte für viele Interessent:innen tatsächlich der Umfang sein: Ich habe für die Story-Kampagne im mittleren Schwierigkeitsgrad knapp 10 Stunden gebraucht, andere mögen hier sogar noch deutlich schneller sein. Dabei beschränkt sich das Kampfgebiet bis zu Schluss auf die genannten Städte – was anderes bekommt man leider nicht zu sehen. Ist man mit der Story durch, gibt es noch die Möglichkeit, Skirmishes (eine festgelegte Anzahl an Wellen von Feinden sind in vorgegebener Zeit zu besiegen) in beiden Gebieten zu spielen – ein Modus, der mich persönlich dann überhaupt nicht gereizt hat, vielleicht bin ich aber einfach nicht der Typ dafür.

Interessanterweise hilft der vergleichsweise geringe Umfang dem Spiel, nicht langweilig zu werden. Im Englischen heißt es so schön: „it doesn’t overstay its welcome“, was durchaus wörtlich zu nehmen ist. Aus – wie ich annehme – Budgetgründen ist nämlich nicht nur die Anzahl der Karten begrenzt: Der Commander hat nur vier Spezialfähigkeiten und auch die Auswahl an eigenen und gegnerischen Einheiten ist vergleichsweise klein. Darum würde ich meinen, dass es nicht viel Sinn gehabt hätte, das Spiel noch länger zu machen – ich fand die 10 Stunden genau richtig, sowohl von der Dauer als auch von der Intensität her (vom geringen Preis, den ich dafür bezahlt habe, ganz zu schweigen). Wer allerdings ein Spiel mit viel Tiefgang sucht, in das hunderte Stunden versenkt werden können, wird mit „Anomaly“ nicht sonderlich glücklich werden.

Abschließend möchte ich noch einmal kurz auf das Genre eingehen. Tower Offense oder Reversed Tower Defense sind tatsächlich die passendsten Begriffe. „Anomaly“ dreht eben das Defense-Prinzip und bringt die Spielenden in die offensive Position, in der sie sich plötzlich selbst durch gut ausgebaute Stellungen winden müssen, um ein Ziel zu erreichen. Ein tolles Konzept, das sich für mich auch 2023 noch wahnsinnig frisch und unverbraucht angefühlt hat.

Gesamteindruck: 6/7


Genre: Strategie
Entwickler:
11 bit studios
Publisher: Headup Games
Jahr:
2011
Gespielt auf: PC


Screenshots aus „Anomaly: Warzone Earth“ – Copyright beim Entwickler!

SpielWelt: Fallout 2


Nur ein Jahr nach „Fallout“ (1997) wurde „Fallout 2“ auf den Markt geworfen. Und obwohl man selbst heute noch merkt, dass das Spiel zu hastig veröffentlicht wurde, konnte es an den Erfolg seines Vorgängers weitgehend anknüpfen. Ich selbst habe es im Herbst 2023 erstmals gespielt und möchte im Folgenden herausarbeiten, wie es mir mit diesem Rollenspiel-Klassiker gegangen ist.

Gesamteindruck: 5/7


Im Ödland nichts Neues.

In meiner Rezension zum ersten „Fallout“ habe ich bereits beschrieben, dass ich begeisterter Spieler der 3D-Variante war und bin, zu der sich die Serie ab „Fallout 3“ (2008) unter der Ägide von Bethesda entwickelt hat. Weil ich aber generell eine Schwäche für Rollenspiele habe – egal, welcher Perspektive sie sich bedienen – stand seit jeher außer Frage, dass ich mich auch an den ersten zwei Teilen der Serie versuchen musste. Es war nur eine Frage der Zeit – und wie so oft haben hier die COVID-19-Pandemie bzw. deren Folgen, speziell Homeoffice, geholfen. Wie sonst hätte ich in der Mittagspause jemals so viel Gelegenheit zum Zocken gehabt?

Darum geht’s:
Fast 200 Jahre, nachdem die Zivilisation, wie wir sie kennen, durch einen Atomkrieg endete: Das primitive Dorf Arroyo an der Westküste der ehemaligen USA wird von einer katastrophalen Dürre heimgesucht. Die Ältesten sehen nur eine Möglichkeit, den Stamm zu retten: Das sagenumwobene G.E.E.K., ein Gerät, das das Ödland zum Blühen bringen kann. Ein einzelner Held – Nachfahre des legendären Vault-Dwellers, der das Dorf einst gründete – wird losgeschickt, um dieses wundersame Ding zu finden…

„Fallout 2“ trägt nicht nur denselben Untertitel („A Post Nuclear Role Playing Game“) wie sein Vorgänger, sondern gleicht dem älteren Bruder in vielerlei Hinsicht wie ein Ei dem anderen. Das beginnt schon bei der Technik: Die Grafik wurde zwar leicht verbessert und ist etwas detaillierter, groß sind die Unterschiede jedoch nicht. Gleiches gilt für den Sound, bei dem mir keinerlei Überarbeitung aufgefallen wäre. Ein paar mehr vertonte Dialoge dürfte es geben, insgesamt hat sich aber weder an der Geräuschkulisse noch an der ohnehin recht spärlichen Musik viel geändert. Beides ist freilich kein Grund zu ernsthafter Kritik, schon gar nicht, wenn man 2023 so alte Spiele auspackt.

Gleiches würde eigentlich auch für das Interface bzw. die gesamte Benutzer:innenführung gelten, hier muss ich aber zugeben, dass ich mir bei einem Spiel, das Ende der 1990er auf den Markt gekommen ist, zumindest eine Frischzellenkur gegenüber seinem Vorgänger erwartet hätte. Die gab es nicht im erhofften Ausmaß, sodass man sich auch in „Fallout 2“ zeitweise mehr mit der umständlichen, wenig intuitiven Bedienung herumschlägt, als mit Rätseln und Feinden. Zwei Punkte, die auch Kummer-erprobte Retro-Profis (zu denen ich mich ganz unbescheiden zähle) das Leben schwer machen, möchte ich exemplarisch hervorheben: Erstens ist das „Questlog“ nach wie vor um eine Zumutung, zweitens ist das Inventarmanagement vor allem dazu geeignet, die Person vor dem Monitor in den Wahnsinn zu treiben. Wer näheres dazu lesen will, kann auf meine Rezension zum ersten „Fallout“ klicken, an den diesbezüglichen Kritikpunkten hat sich leider nichts geändert.

Entwicklungsprobleme.

Dass die ersten zwei Titel der heute legendären Rollenspielreihe so homogen sind, hat vor allem mit der kurzen Zeit zwischen den Veröffentlichungsterminen zu tun: „Fallout“ kam am 10. Oktober 1997 in die Läden, „Fallout 2“ fast genau ein Jahr später (30. September 1998), wobei die Konzeptionsphase wohl schon vor Release des ersten Teils begonnen hatte. Allerdings, so erzählt man es sich jedenfalls, war der Zeitraum, in dem tatsächlich an „Fallout 2“ gearbeitet wurde, deutlich kürzer und mit erheblichem Crunch verbunden, was noch nie zu überbordend guten Ergebnissen geführt hat. Zu allem Überfluss hatten bereits kurz nach Beginn der Entwicklung mehrere Personen aus dem Kernteam des Vorgängers das Handtuch geworfen.

Die große Eile, in der „Fallout 2“ zusammengeschustert wurde, hat schlechterdings auch Folgen abseits der genannten Punkte. So ist die Handlung beispielsweise eine Neuauflage dessen, was uns bereits in „Fallout“ vorgesetzt wurde: Viel mehr als das Wort „Wasseraufbereitungschip“ durch „G.E.E.K.“ zu ersetzen, wurde nicht gemacht – und das finde ich persönlich dann doch etwas schwach. Wobei man an dieser Stelle relativierend festhalten muss: Wie die späteren 3D-Varianten leben auch die ersten Teile der Reihe von verschiedenen Aspekten (siehe unten), zu denen die Hauptquest definitiv nicht gehört – ein Effekt den man auch aus der „The Elder Scrolls“-Serie kennt. Dennoch wollte ich das lazy storywriting nicht unter den Tisch fallen lassen.

Kann man über die genannten Punkte relativ locker hinwegsehen, wird es an anderer Stelle wirklich ärgerlich: Mehr noch als sein auch alles andere als fehlerfreier Vorgänger leidet auch „Fallout 2“ unter massivem Bug-Befall. Abstürze gehören zur Tagesordnung, es gibt immer wieder Quests, die ins Leere laufen bzw. nicht abgeschlossen werden können und es kommt gerne zu Grafikfehlern unterschiedlichster Natur. Ein Teil der Probleme, die die ursprüngliche Fassung plagten, wurde zwar durch eilig nachgeschobene Patches behoben, so richtig rund läuft es aber auch 2023 noch nicht.

Deutsch? Naja…

Wer den kompletten Wahnsinn, den enormer Zeitdruck in der Entwicklung eines Spiels verursacht, erleben möchte, sollte zur deutschen Version greifen. Vermurkst ist hier ein Hilfsausdruck – und das manifestiert sich gleich zweifach: Erstens war anno 1998 die Zensur in Deutschland sehr streng, sodass Teile des Spiels der Schere zum Opfer fielen. Leider – wie damals üblich – ohne Sinn und Verstand, indem z. B. alle (!) Kinder ohne Aufhebens ersatzlos aus dem Spiel entfernt wurden. Dass das Gift für Quests, die damit in Zusammenhang stehen, ist, sollte niemanden verwundern. Absurderweise wurden übrigens nur die Kinder-Sprites gelöscht, nicht die zugehörigen Ambient-Dialoge. Die Folge: An manchen Stellen im Spiel meint man, Geisterstimmen zu hören (bzw. zu lesen), weil Text eingeblendet wird, ohne dass ein:e Sprecher:in zu sehen wäre.

Besser wäre es gewesen, auch diese Texte zu streichen, doch dann kämen deutschsprachige Spielende nicht in Genuss des zweiten Problems: Die Übersetzung ist schlichtweg katastrophal; ich hätte nie gedacht, dermaßen hingerotzte Zeilen in einem Ende der 1990er erschienenem Spiel zu Gesicht zu bekommen. Allein die Bezeichnung des Protagonisten spricht Bände: Im Original als „The Chosen One“ unterwegs, müssen wir uns hierzulande als „Auserwähltes Wesen“ durch das Ödland schlagen. Das deutet darauf hin, dass keine Zeit mehr war, die Ansprache für beide Geschlechter (der/die Auserwählte) zu implementieren. Daneben gibt es zahllose Tippfehler, horrende Fehlgriffe bei mehrdeutigen Wörtern und ähnlichen Kram, der es im schlimmsten Fall fast unmöglich macht, eine Quest zu lösen, weil man schlicht nicht kapiert, was überhaupt zu tun ist. Angesichts dieser Blamage sind auch die auch im Deutschen durchwegs guten Synchronstimmen ein schwacher Trost.

Manche Kürzungen haben übrigens Auswirkungen, die über solche Unannehmlichkeiten hinausgehen: „Fallout 2“ beinhaltet auch das eine oder andere automatisch ablaufende Event, das für das deutsche Publikum als „zu brutal“ erachtet wurde. Diese Zwischensequenzen wurden einfach entfernt, was dem Programm-Code freilich nicht gut getan hat. Die Folge: Weitere Abstürze, bei mir wurde – mutmaßlich deshalb – sogar ein Speicherstand unbrauchbar. Warum ich mir das überhaupt angetan habe? Nun, ich habe vor unzähligen Jahren die „Fallout-Trilogie“ für kleines Geld auf DVD erstanden – und die enthält nur die deutschen Fassungen. Kann man zwar nachträglich so hinbiegen und -patchen, dass man das Original spielt, mir war das allerdings zu aufwendig. Selber schuld – ich würde jedenfalls niemandem raten, eines dieser Spiele auf Deutsch zu spielen, wenn er:sie auch nur halbwegs des Englischen mächtig ist.

Großartige Atmosphäre.

Genug geschimpft, kommen wir zu den schönen Dingen des Lebens: „Fallout 2“ tritt auch im besten Sinne in die Fußstapfen seines Vorgängers und ist ein überaus unterhaltsames Spiel. Immer noch steuert man einen vorher selbst erstellten Charakter, gegebenenfalls inklusive einer illustren Truppe an Begleiter:innen, in isometrischer Ansicht durch das Ödland. Abseits der taktischen Kämpfe läuft alles in Echtzeit ab, wobei die Reise zwischen den einzelnen Siedlungen über eine merklich größere Weltkarte erfolgt. Leider ist letztere wie schon im ersten „Fallout“ ziemlich leer: Bis auf gelegentliche Zufallsereignisse gibt es abseits der Städte wenig zu entdecken, es sei denn, die Handlung sieht das vor.

Generell ist die Spielwelt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, völlig offen, d. h. von Anfang an kann die gesamte Karte erkundet werden. Zwischen den Siedlungen übrigens nicht mehr nur per pedes: Nach ein paar Spielstunden hat man die Möglichkeit, einen fahrbaren Untersatz zu ergattern, was die Reisen erheblich beschleunigt (nicht, dass es ein Zeitlimit gäbe). Willkommener Bonus des atombetriebenen Autos ist dessen Kofferraum, in dem man ordentlich Beute verstauen kann. Neben der größeren Anzahl an Dörfern und Städten (die auch abwechslungsreicher sind) stehen deutlich mehr mögliche Begleiter:innen zur Auswahl; vergrößert wurde ferner das Waffenarsenal.

Am Ablauf hat sich seit dem Vorgänger nichts geändert: In jeder Siedlung warten mehr oder weniger seltsame NPCs – neben Menschen kann man u. a. mit Super-Mutanten, Ghulen und Robotern sprechen. Das lohnt sich allein deshalb, weil es maßgeblich zur sehr speziellen, kaum in Worte zu fassenden Atmosphäre von „Fallout“ beiträgt. Das Worldbuilding stimmt also, wobei der Charme des Ganzen deutlich roher und chaotischer ist, als man es von neueren Spielen der Reihe kennen mag. Der Smalltalk mit den Bewohner:innen des Ödlands erfüllt freilich noch einen anderen Zweck, der für das Vorankommen im Spiel wichtig ist: Viele bitten um Hilfe bei nicht minder skurrilen Aufgaben und Sorgen, die meist wenig bis nichts mit der Haupthandlung zu tun haben. Dass man diese Nebenquests in möglichst großer Zahl löst, ist Ehrensache – und auch notwendig, weil auf diese Weise ordentlich Erfahrungspunkte auf das Konto gespült werden. Mit denen werden die aus Teil 1 bekannten Attribute und Fertigkeiten gesteigert; dabei geht das Entwicklungsteam den Weg konsequent weiter: Fast jeder positive Effekt hat auch seine Schattenseiten, sodass man stets abwägen muss, in welche Perks man die sauer verdienten Punkte investieren möchte. Vorausplanung ist also Pflicht. Apropos Entscheidungen: Selbstredend sind auch praktisch alle Quests auf verschiedene Weise lösbar – für welchen Weg man sich entscheidet, hat durchaus Auswirkungen auf den weiteren Spielverlauf, zumindest aber auf die Art und Weise, wie NPCs dem Spieler:innen-Charakter später gegenüber treten. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Waffengewalt nahezu gleichberechtigt neben friedlichem oder heimtückischem Vorgehen steht: Die Vor- und Nachteile der einzelnen Lösungsmöglichkeiten sind gut ausbalanciert.

Fazit: Spielen!

Zusammenfassend kann man sagen, dass es im Ödland wahrlich wenig Neues gibt. „Fallout 2“ wirkt letztlich wie eine Erweiterung des ersten Teils mit leichten Verbesserungen. Das wäre – vor allem aus heutiger Sicht – eigentlich kein Grund zum Meckern: Immerhin übernimmt der Nachfolger alle Stärken des ersten Teils und legt an entscheidenden Stellen sogar eine Schippe drauf. Schade ist hingegen, dass man sich zu wenig Zeit gegeben hat, um a) eine Bug-freie Version abzuliefern und b) zumindest die augenfälligsten Schwächen und Fehler von „Fallout 1“ zu beseitigen. Wäre das geschehen, hätte ich vielleicht sogar zur Höchstwertung gegriffen.

Was man (ich) aber trotz aller genannten Probleme zugeben muss: Black Isle hat mit „Fallout 2“ einmal mehr gezaubert und damit gezeigt, warum Spielefans bis heute mit der Zunge schnalzen, wenn der Name dieses Entwicklungsstudios fällt. Und deshalb: Wer auf klassische Rollenspiele steht und mit dem sehr speziellen Setting in der post-nuklearen Welt etwas anfangen kann, sollte „Fallout 2“ auch heute noch unbedingt eine Chance geben. Es lohnt sich trotz aller Probleme – das garantiere ich!

Gesamteindruck: 5/7


Genre: Rollenspiel
Entwickler:
Black Isle Studios
Publisher: Interplay Entertainment
Jahr:
1998
Gespielt auf: PC


Screenshots aus „Fallout 2“ – Copyright beim Entwickler!